In den Armen von Eros
Die Welt da draußen ist längst irgendwohin
verschwunden, wir sind nur mehr umgeben von goldenen Schleiern, leise
flüsternden Wellen im Ozeans unserer Gefühle, tanzenden Elfen und Faunen.
Die dünnen weißen Vorhänge am Fenster blähen sich leicht, als würden
unsichtbare Geister in den Raum hereinschweben.
Wir halten uns noch immer umklammert, du flüstert mir wundervolle, goldene
Worte ins Ohr, deine Zunge gleitet an meinem Ohr entlang, es kitzelt am Gaumen.
Meine Hände gleiten unruhig auf deinem Rücken auf und ab, zählen die Knorpel,
fühlen das Zucken der Muskeln und spüren durch die Haut, wie dein Blut pocht.
Eine Hand gleitet nach unten, kommt bei deinem festen Po an, krallt sich
hinein, deine Zunge wird unruhiger.
Ich spüre, wie dein Penis in mir darauf reagiert, er pocht leise in mir, er ist
offenbar wieder voll erwacht.
Wir liegen Antlitz gegen Antlitz, eng umschlungen und noch immer ein wenig
atemlos, deine Zunge gleitet von den Ohren zum Hals, leckt im Zwischenraum der
beiden Brüste, nimmt einen Nippel sanft zwischen die Zähne und beißt zärtlich
hinein. Ich schreie leise auf, mein Oberkörper ruckt nach vorne und dein Becken
erwidert. Es beginnt ein kleiner Rhythmus von kurzen, festen Bewegungen, die
sich gegenseitig aufschaukeln. Ganz tief in mir stößt dein Schwert auf
Widerstand, übt Druck aus und lässt wieder Spielraum. Kommt wieder und durch
dieses Spiel der kleinen Teufel der aufsteigenden Lust entfachen wir ein neues
Feuer.
Wir halten uns noch immer umklammert, ich verbeiße mich in deine Schulter, meine
Zunge leckt daran und ich beginne vor Lust und Gier zu hecheln. Von den
Zehenspitzen bis zu den Fingerspitzen machen sich nun tausende Ameisen auf den
Weg und bringen mich dem Wahnsinn nahe. Ich löse mich von deiner Schulter,
werfe den Kopf zurück und schreie meine Erregung hinaus. Der ganze Körper wird
erfasst, es ist ein Ziehen und Pochen zu spüren, Wellen durchlaufen ihn und
scheinen ihn zu sprengen.
Während dein Speer unbarmherzig in mir tobt, mich an seiner Spitze aufgespießt
hat, beginne ich mich aufzulösen, alles wird zu flüssigem Gold rund um mich und
es bahnt sich eine ungeheure Explosion an. Langsam rollt die Lava auf mich zu,
sie züngelt und brodelt und nimmt Besitz von uns Beiden und wir erliegen in
einer sehr tiefliegenden Explosion unseren Gefühlen. Es dauert gefühlte Minuten
lang, wir wälzen uns träge hin und her, flüstern uns zärtliche Worte ins Ohr
und genießen die andauernde Anspannung und die Lockerung der Muskeln, das
neuerliche zarte Aufflammen der Lust. Der Orgasmus dauert an, wird multiple und
fließend, bis er langsam ausläuft.
Das alles dauert so lange, bis wir erschöpft, plötzlich zusammensinken, alles
wird sanft und weich, die krampfhaften Zuckungen ebben ab und wir atmen
ruhiger. Wir schweben im Raum, verlieren uns in den Laken
Auch der Raum wird langsam heller, doch es ist der aufkommende Morgen der den
Horizont aus der Nacht hebt und es ist nicht die Nachtigall, die wir hören, es
ist doch die Lerche, die den Morgen und das Ende einer paradiesischen Nacht
ankündigt. Wäre ich nicht so glücklich und losgelöst, ich würde sie hassen!
Wir schlummern leicht ein, doch wir lassen uns nicht los. Die Lerche hat
endlich aufgehört, uns an den Morgen zu erinnern! Ein paar träumerische
Gedanken nehmen wir in unseren kurzen leichten Schlaf noch mit.
Als wir später wieder unten an unserem Tisch sitzen und das Frühstück
einnehmen, uns stumm ansehen und unsere Augen sich versprechen, dass wir uns ja
wiedersehen, spüren wir doch, dass der Alltag wieder eingekehrt ist.
VERSTEINERTES
HERZ
Dem alten Mann im Rollstuhl
wurde es langsam kühl. Er zog die Decke noch enger um seine Knie und schloss
mit einer Hand den Fensterflügel an seiner Seite. Die Sonne stand schon sehr
tief und die Vögel zogen in Schwärmen über die Donau von Nussdorf Richtung
Wilhelminenberg in ihre Nachtquartiere.
Es wurde Abend. Wieder einer jener einsamen
ungezählten Abende an denen die Erinnerungen aus allen Ecken des dunklen Hauses
auf ihn zu krochen und ihn nicht einschlafen lassen.
Er klopfte mit dem Stock auf den Fußboden, ungeduldig
und einige Male; öfter als es eigentlich nötig wäre. Er wusste, dass Anna nicht
so schnell die Treppe heraufkommen konnte.
Anna war schon
immer im Hause oder fast schon immer. Sie kam, als seine Tochter Viktoria
geboren wurde und zog diese dann ganz alleine auf. Man konnte fast glauben,
dass es ihr eigenes Kind war. Es lag wohl an der seit vielen Jahren andauernden
heimtückischen Krankheit seiner Frau Paula, dass die Bindung des Kindes zu
ihrem Kindermädchen stärker war, als zu ihrer leiblichen Mutter.
Sein Blick glitt langsam zu dem im Dunkeln hängenden
Bild an der Wand über dem Schreibtisch und tastete das geliebte Gesicht ab.
Viel zu früh war seine Frau von ihm gegangen und hatte ihm mit einem
halbwüchsigen Kind alleine gelassen. Sein Beruf nahm ihm sehr in Anspruch und
er war oft wochenlang von zu Hause weg. Viel zu spät merkte er, dass ihm
Viktoria entglitt, sie entwickelte sich zu einer sehr selbständigen
eigenwilligen Persönlichkeit, es gab keine gemeinsamen Gespräche mehr. Er
sprach meist nur Verbote aus, ohne zu merken, dass Viktoria erwachsen wurde.
Eines Tages als er nach Hause kam, saß Anna weinend da, in der ausgestreckten
Hand hielt sie einen Brief. Viktoria war gegangen. Sie bat darum nicht nach ihr
zu suchen, da sie sich ihr eigenes Leben aufbauen will und wenn sie es
geschafft hätte, würde sie sich wieder melden.
Er sah Viktoria niemals wieder. Einer seiner Freunde
hörte, sie hätte sich angeblich verheiratet und wäre ins Ausland gegangen.
Anfangs kamen noch Briefe aus verschiedenen Ländern, die er jedoch alle
ungeöffnet wieder zurückschickte, so verletzt war sein Stolz.
Sein Blick löste sich von dem Bild an der Wand und er
blickte Anna entgegen, die soeben durch die Türe kam.
„Warum sitzen Sie denn im finsteren Raum?“
Sie griff zum Lichtschalter und machte Licht. Trotz
ihres hohen Alters war sie noch immer rüstig und erstaunlich energisch.
„Ich habe erst jetzt bemerkt, dass es schon so
finster ist. Bitte bringen sie mir den Tee und mein Schinkenbrot.“
Sie ging hinaus in den Flur und kam mit einem Tablett
wieder herein.
„Ich habe schon alles mitgebracht.“ Sie stellte das
Tablett auf den kleinen Tisch neben ihm und wandte sich ab.
„Ach ja, was ich noch sagen wollte, “ sie blieb stehen
und drehte sich wieder um,
„Ich habe von der Agentur eine jüngere sehr erfahrene
Krankenschwester bekommen. Sie wird morgen früh kommen, so dass ich sie noch
einweisen kann. Ich kann dann beruhigt nächste Woche für ein paar Tage zu
meiner Schwester fahren.“
Sie blickte ihn an und ihre Augen funkelten ihn an.
„Wehe, wenn Sie sie vergraulen oder vielleicht auch
noch Ihre schlechte Laune an ihr auslassen.“
„Ich hoffe sie ist nicht so gesprächig wie die Letzte
und spricht nicht immer in der dritten Person mit mir.“
Was er sonst noch murmelte konnte und wollte Anna
nicht verstehen. Sie ging wieder hinunter und wischte gleichzeitig mit einem
Tuch über das Gelände. Obwohl sie nun schon über siebzig Jahre alt war und ihr
das Treppensteigen große Mühe bereitete, fuhr sie niemals mit dem Lift, der vom
ersten Stock des Hauses ins Parterre führte und erst vor einigen Jahren
eingebaut wurde, als sich Dr. Werneg nur mehr im Rollstuhl weiterbewegen
konnte.
Sie wird morgen, wie jedes Jahr, ihre Schwester, die
in Graz lebt, für einige Tage besuchen und ihrem Chef für diese Zeit einer
Krankenschwester überlassen. Sie hatte sich diesmal bei der Auswahl besondere
Mühe gemacht und hofft, dass diese wenigen Tage ohne größere Probleme über die
Bühne gehen werden.
Als Dr. Werneg frühmorgens ein Taxi vorfahren hörte,
fuhr er mit seinem Rollstuhl auf die Terrasse hinaus, direkt bis zur Brüstung.
Was er sah, gefiel ihm gar nicht. Das war eine Krankenschwester? Langes
rötlich-blondes Haar fiel in einer wirren Mähne über die Schultern bis über den
halben Rücken herab. Das Kleid war etwas zu lang für seinen Geschmack und die
Füße steckten in hochhackigen Pumps. Der Taxichauffeur war beschäftigt mit
einem Berg von Koffern, genau genommen sind es drei. Sie bedankte sich, bezahlte
den Chauffeur und lief, gleich einen Koffer mitnehmend die Treppe zur
Eingangstüre hinauf und klingelte.
Er fuhr wieder in sein Arbeitszimmer zurück zum
Schreibtisch und tat als sei er in ein Buch vertieft, das dort lag. Aber er
lauschte auf die Geräusche im Hause.
Er hörte wie sich der Lift in Bewegung setzte und
Anne mit energischer Stimme ihre Anweisungen gab.
Sie quartierte sie in das kleine Zimmer am Ende des
Ganges ein, welches früher das Zimmer von Anna war, doch seit sie
Schwierigkeiten mit der Treppe hatte, bewohnte sie nun ein Zimmer im Parterre,
gleich neben der Küche mit einem Ausgang in den Garten.
Er hört nun auch die Stimme der Krankenschwester
deutlicher. Es war eine helle lebhafte,
fast lustige Stimme. Anna sagte etwas und das Mädchen lachte.
„Das werden zwei unruhige Wochen werden“, dachte er und schüttelte den Kopf.
Er vertiefte sich nun endgültig in das Buch.
Es klopfte an der Türe.
„Ja, bitte“, er hob den Kopf.
Die Türe öffnete sich und Anna schob die Neue vor
sich her in das Zimmer. Er war überrascht. Fast hätte er das Mädchen nicht wiedererkannt.
Sie hatte die Haare unter einer Schwesternhaube versteckt. Die Schwesterntracht
in blau und weiß, hochgeschlossene blaue Bluse und weiße Schürze und flache
weiße Schuhe, gaben ihr ein völlig anderes Aussehen.
„Darf ich vorstellen, das ist Schwester Sylvia, Herr
Dr. Werneg, Ihr Patient für die nächsten zwei Wochen.“ Anna gestikulierte
zwischen den beiden mit den Armen und versuchte gleichzeitig einen warnenden
Blick an Dr. Werneg abzusenden, um ihn ja zu einem kleinen Lächeln zu bewegen.
Schwester Sylvia streckte ihre Hand aus, lächelte und
strahlte ihn mit ihren großen graugrünen Augen an. Er konnte gar nicht anders
und lächelte zurück.
Anna war zufrieden.
„So, jetzt lassen wir Sie wieder alleine, ich muss
Schwester Sylvia alles zeigen“, sagte sie und beide verließen den Raum.
Die folgenden Tage ergaben für ihn neue Erfahrungen.
Das Haus war unruhiger als sonst. Schwester Sylvia lief manchmal eilig einige
Stufen die Treppe hinunter, stoppte danach jedoch sofort und ging wieder
langsam. Es war als wollte sie sich besinnen, dass sie in diesem Haus nicht
laufen sollte. Am Morgen glaubte er sogar, sie im Bad singen gehört zu haben.
Er ertappte sich dabei, wie er auf diese neuen Geräusche lauschte und versuchte
sie zu identifizieren.
Eine Neuerung gab es auch beim Mittagessen. Diese
Mahlzeit wird immer unten im Esszimmer, gleich neben der Küche gemeinsam
eingenommen. Bisher war es so, dass Anna servierte und sich dann zu ihm setzte
und sie nahm das Essen schweigend ein. Sie hatten sich nicht viel zu erzählen.
Nach all den Jahren beschränkte sich die Konversation darauf, dass er seine
Wünsche bekannt gab, Anna diese entgegennahm und ihn nur manchmal mahnte, seine
Medikamente einzunehmen, die sie ihm neben den Teller in eine kleine Dose vorzählte.
Ein Thema war tabu, es durfte nicht über Viktoria gesprochen werden. Er hatte
keine Tochter mehr.
Das neue beim Mittagessen war, dass Anna sitzen blieb
und Schwester Sylvia servierte. Mit einiger Verwunderung bemerkte er in der
Mitte des Tisches eine kleine flache Schale mit frischen Blumen.
„Wozu, “ dachte er, „deshalb schmeckt mir der Diät
Brei auch nicht besser. Ich werde es ihr morgen sagen. Sie soll die Blumen
lassen, wo sie hingehören, in den Garten.“
Schwester Sylvia versuchte noch ein- bis zweimal ein
Gespräch anzufangen, doch gegen diese Mauer des Schweigens versagte auch ihre
jugendliche Unbekümmertheit.
Nach dem Essen begab er sich wieder in den Lift und
fuhr in den oberen Stock hinauf um seinen Nachmittagsschlaf anzugehen. Anna und
Schwester Sylvia begaben sich in die Küche und er hörte noch eine Weile ganz
leises Tellerklirren und ihre beiden Stimmen. Dann herrschte Stille.
Um vier Uhr klopfte es an der Türe und nach seiner
Aufforderung trat Schwester Sylvia ein.
„Ich möchte Ihren Blutdruck messen“, sagte sie und
holte sich einen der beiden Stühle die neben seinem kleinen Tisch standen, an
dem er abends immer alleine seinen Tee trank und sein Schinkenbrot aß. Sie
krempelte den Ärmel seines Hausmantels hoch und platzierte das
Blutdruckgerät. Nachher notierte sie
gewissenhaft die Werte.
„Ihr Blutdruck ist in Ordnung, etwas zu niedrig, aber
das liegt daran, dass Sie immer hier in diesem Raum sitzen und nur lesen und
wahrscheinlich irgendwelchen Gedanken nachhängen. Das sollten sie nicht. Sie
sollten nachmittags in den Garten kommen. Da sind Sie der Natur näher und
können auch besser sehen, was so um Sie herum geschieht.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie ihm die Decke
über die Knie und übersah absichtlich seine abwehrende Geste. Sie fuhren mit
dem Lift ins Erdgeschoss und Schwester Sylvia schob den Rollstuhl ins Freie
unter den Apfelbaum.
„Wissen Sie was ich sehr schade finde, “ plapperte
sie drauf los, „dass sich in Ihrem wunderschönen großen Garten keine
Enkelkinder tummeln.“
Er fuhr herum und seine Augen blitzten sie an.
„Da ich keine Kinder habe, kann ich auch keine
Enkelkinder haben.“ Seine Hand schlug kräftig am Gartentisch auf und das dort
liegende Buch fiel zu Boden.
Schwester Sylvia drehte sich ganz erschrocken um.
„Entschuldigen Sie bitte, es tut mir leid, ich wollte
Ihnen nicht zu nahetreten.“ Sie kämpfte mit den Tränen und bückte sich um das
Buch aufzuheben. Durch den Fall war der Rücken verbogen und dieser Umstand
entlockte ihr einen kleinen erschrockenen Schrei.
Auch Dr. Werneg war erschrocken über seinen Ausbruch
und sie tat ihm fast leid.
„Bringen Sie mich wieder hinauf“, sagte er leise und
begann selbst am Rad des Rollstuhles zu drehen.
„Ach nein, bitte bleiben Sie hier, “ ihre großen
Augen waren ganz verschwommen und eine Träne suchte sich einen Weg über ihre
Wange. „Ich wollte Ihnen nur eine Freude machen und mit Ihnen plaudern, um Sie
besser kennen zu lernen. Immerhin müssen wir die nächsten zwei Wochen
miteinander auskommen.“
„Ein anderes Mal; jetzt möchte ich wieder in mein
Zimmer.“ Sagte er und begann mit dem Rollstuhl in Richtung Haus zu fahren. Sie
machte einen großen Schritt auf ihn zu und schob den Rollstuhl langsam vor sich
hin. Dabei klemmte sie sich das Buch unter den Arm und versuchte sorgfältig die
verbogene Ecke zu glätten.
„Ist es beschädigt?“ Fragte er.
„Nein, es ist nur der Einband verbogen, aber es
gehört mir nicht, ich habe es mir ausgeborgt. Ich habe in einem Monat eine
große Prüfung und muss mich vorbereiten, “ lächelte sie nun wieder, „ich habe
einen ganzen Koffer Bücher mit.“
„Was ist das für eine Prüfung?“ er ärgerte sich über
seine Frage er wollte keine zu vertraute Stimmung aufkommen lassen.
„Ich studiere Medizin.“
„Ich dachte Sie sind Krankenschwester?“ Er drehte den
Kopf etwas zur Seite, als wollte er sie anblicken.
„Ja, das bin ich derzeit.“ Nickte sie und schob ihn
in den Lift und sie fuhren hinauf.
„Aber durch meinen Beruf habe ich die Liebe zur
Medizin erst richtig entdeckt und mich entschlossen Medizin zu studieren.“
Sie waren oben angekommen und deutete mit einer
Handbewegung an, dass er allein sein Zimmer erreichen kann. Sie nickte und er
beobachtete, wie sie zu ihrem Zimmer ging und die Türe leise Schloss.
In den nächsten drei Tagen beschränkten sich die
Gespräche zwischen ihnen nur auf Allgemeines, seine Person und seine Pflege
betreffend. Er hatte den Eindruck, dass Schwester Sylvia den Zwischenfall im
Garten Anna erzählt hatte, denn diese blickte ihn manchmal sehr vorwurfsvoll
an, ohne aber etwas zu erwähnen.
Dann war es soweit. Anna fuhr zu ihrer Schwester und
ließ ihn mit Schwester Sylvia alleine.
Sie hatte das Frühstücksgeschirr geholt und sein
Zimmer aufgeräumt. Sie war sehr gewissenhaft und schüttelte die Polster am
Balkon sehr kräftig durch und ließ sie auch einige Zeit in der Sonne auf einem
Stuhl liegen. Er saß da und beobachtete sie. Manchmal schien es, als wollte sie
ein Gespräch beginnen, doch sie tat es dann doch nicht.
Als sie fertig war, nahm sie noch die gebrauchten
Handtücher aus dem Bad und wollte eben das Zimmer verlassen, als ihr Blick auf
das Frauenbildnis über dem Schreibtisch fiel. Sie blieb stehen und betrachtete
es, ohne zu wissen, dass der alte Mann sie von der Türe zur Terrasse aus
beobachtete. Mit dem Staubtuch wischte sie langsam darüber und rückte es etwas
zurecht, aber es verrutschte wieder.
„Es hängt immer schief.“ Seine Stimme erschreckte sie
zutiefst.
„Ich wollte es zurechtrücken“, sie schaute ihn
ängstlich an „Ihre Frau?“
Sie wusste von Anna wer das war. Sie stellte diese
Frage nur um etwas zu sagen.
„Ja, ihr Name war Paula“, sagte er und seine Stimme
klang belegt.
„Ich weiß“, sagte sie und hielt erschrocken inne,
doch er hatte es nicht gehört. Er war wieder ganz in seine Gedanken versunken
und sie verließ den Raum.
Durch dieses Gespräch bekam jedoch die unsichtbare
Mauer zwischen Ihnen einen Riss und in den nächsten Tagen tasteten sie sich
langsam aufeinander zu.
Sie erzählte ihm über ihre Kindheit in einem Internat
in Salzburg, später dann wohnte sie in einem Schwesternheim. Die regelmäßigen Briefe
aber seltenen Besuche der Mutter, einer verschlossenen von ihrem Mann
verlassenen Frau hinterließen jedoch in ihr die Sehnsucht nach einem Heim,
einer Familie. Die Mutter selbst reiste in der Welt herum und machte Reportagen
aus Kriegs- oder Katastrophengebieten für ausländische Zeitungen. Ihr Heim
waren Hotelzimmer oder Pressezentren. Die letzte Nachricht von ihr vor fünf
Jahren kam aus einem Nest in Zentralamerika, dann nichts mehr. Sylvia machte
ihr Diplom als Krankenschwester, aber sie konnte der Mutter diese wichtige
Station in ihrem Leben nicht mehr mitteilen. Sie gilt seitdem als verschollen.
Er erzählte von seinen Reisen im Auftrag des
Auswärtigen Amtes der Regierung. Er vermied es aber über seine Familie zu
sprechen und so erfuhr er mehr über sie, als sie von ihm erfahren konnte.
Anna musste ihren Aufenthalt bei der Schwester
verlängern, da diese erkrankt war und bat um eine zusätzliche Woche.
Er war zu seinem Erstaunen über diese
unvorhergesehene Verlängerung der Anwesenheit Schwester Sylvias erleichtert. Er
wollte es sich nicht eingestehen, doch er hatte sich an dieses Mädchen gewöhnt.
Die Nachmittage hielten sie sich, wenn es das Wetter erlaubte im Garten auf und
abends las sie ihm manchmal etwas vor, wenn seine Augen schon müde waren. Sie
lief auch manchmal die Treppe hinunter, ohne dass er in seinem Zimmer die
Stirne runzelte.
„Morgen kommt Anna wieder“, sagte sie und schüttelte
das Polster kräftiger als es eigentlich nötig war. Er merkte, dass sie heute
sehr bedrückt war und wenn sich ihre Blicke trafen, senkte sie den Blick.
„Das ist gut so, dann kehrt wieder die alte Ordnung
zurück“, sagte er mit etwas zu lauter Stimme und drehte den Rollstuhl so, dass
sie ich nicht anblicken konnte.
Er war sehr erschrocken über sich selbst und wusste
gleichzeitig, dass er diesen Satz gar nicht wirklich sagen wollte.
Doch in den letzten Tagen war ihm plötzlich klargeworden,
dass sie die Mauer um ihn herum einzureißen drohte, dass er sich an sie zu
gewöhnen begann und dies machte ihm Angst. Er wollte sich nie wieder an einen
Menschen so gewöhnen, dass ein Schmerz blieb, wenn ihn dieser Mensch wieder
verließ.
Sie ging schweigend aus dem Zimmer und er hörte, wie
sie in ihrem Zimmer am Ende des Ganges auf und abging und es war ihm, als würde
sie die Türen des Schrankes und die Laden öffnen und wieder schließen.
„Sie packt“, ging es ihm durch den Kopf.
Sie kam abends nochmals in sein Zimmer brachte ihm
sein Abendessen und um das Fenster zu schließen, da sich ein Gewitter
ankündigt.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und sah ihm voll
ins Gesicht.
„Hätten Sie nicht manchmal gerne eine Familie oder
irgendjemand der zu Ihnen gehört?“ Fragte sie plötzlich und in ihrer Stimme lag
eine ungeheure Spannung.
„Nein, ich bin froh, dass ich keine Familie habe“,
sagte er und drehte sich zur anderen Seite.
Sie verließ den Raum ohne noch etwas zu sagen.
Am nächsten Tag sehr zeitig am Morgen kam Anna. Sie
ließ sich vom Chauffeur die Reisetasche hineintragen und als er schon wegfahren
wollte, bat sie ihn noch zu warten; er bekäme gleich einen Fahrgast für die
Rückfahrt, rief sie ihm zu.
Er beeilte sich mit seinem Rollstuhl auf die Terrasse
zu kommen und blickte zum Eingang des Hauses hinunter.
Schwester Sylvia kam mit Anna heraus und sie
verstauten die Koffer im Taxi.
Die beiden Frauen sprachen noch ein paar Sätze
miteinander und zu seiner großen Verwunderung küssten sie sich zum Abschied und
Anna strich der Jüngeren über das Haar. Schwester Sylvia fuhr, ohne eines
Blickes zurück oder zu ihm hinauf zu werfen, ab.
Er blieb sehr verwirrt noch eine Weile auf der
Terrasse sitzen.
Die Leere und Stille im Haus waren plötzlich
körperlich zu spüren. Daran änderte sich auch nichts, obwohl er Anna im
Erdgeschoß herumgehen hörte, und auch, dass einige Male eine Türe knallte.
Nach einer Stunde kam Anna die Treppe herauf und
klopfte an seiner Türe. Er bat sie einzutreten.
„Sie sind schon auf?“, Waren ihre ersten Worte, “nun
bin ich wieder da und die alte Ordnung kehrt wieder ein.“
Nach diesem Satz wusste er, dass Schwester Sylvia ihr
das letzte Gespräch von gestern Abend erzählt hatte.
„Ist sie schon weg?“ Fragte er.
„Ja“, antwortete Anna knapp und widmete sich seinem
Bett.
„Sie hätte sich von mir aber auch verabschieden
können, aber diese jungen Dinger heutzutage haben ja keine Erziehung, alles
dreht sich nur ums Geld verdienen.“
Schwang da Trauer mit oder war er beleidigt?
Anna dreht sich um. In jeder Hand einen Polster, ihre
Augen funkelten ihn an und es schien, als wollte sie die Beherrschung
verlieren.
„Dieses junge Ding war Ihre Enkelin, die Tochter von
Viktoria“, es schoss aus ihr heraus, als ob endlich der Deckel eines Gefäßes
geöffnet wird, der unter Druck stand.
„Denn ich hatte all die Jahre Kontakt mit Viktoria.
Ich kenne dieses Mädchen, Ihr Enkelkind, von Geburt an. Sie ist ein ganz
wunderbarer, empfindsamer Mensch, im Gegensatz zu Ihnen! Ach wie oft wollte ich
Ihnen alles erzählen, doch das Thema wurde von Ihnen ja schon im Ansatz
abgewürgt. Ich habe eine Vielzahl von Briefen, in denen mir Viktoria ihre
Sehnsucht nach Ihnen beichtete. Doch gab
sie es auf Ihnen zu schreiben, nachdem Sie alle Briefe ungeöffnet zurückgeschickt
haben. Wir haben seit Jahren nichts mehr
von ihr gehört. Nun wollte Sylvia endlich ihren Großvater kennen lernen, wollte
ihn in die Arme schließen, ihn endlich kennen lernen. Da haben wir die
Gelegenheit ergriffen und sie meldete sich zur Vertretung für mich. Wir haben
sogar die Krankheit meiner Schwester erfunden, um noch eine Woche daran zu
hängen. Doch letztendlich, nach ihren Äußerungen hat sie sich nun doch nicht
getraut sich Ihnen anzuvertrauen, sie hatte Angst zurückgewiesen zu werden. Sie
werden auch sie niemals wiedersehen, sie wird aus Ihrem Leben ebenso
verschwinden wie Viktoria.“
Sie schmiss die beiden Polster wieder auf das Bett
zurück und verließ den Raum.
Wie vom Donner gerührt hatte er ihren Worten
gelauscht. Die Gedanken überstürzten sich, Bilder tauchten aus der
Vergangenheit auf, die er längst vergessen geglaubt hatte.
Er sah Viktoria vor sich als kleines Mädchen, als sie
ihm jedes Mal entgegen lief Wenn, er von einer seiner Reisen zurückkam. Ihre
rötlich-blonden Haare flatterten dann und ihre großen Augen leuchteten. Der Tod
von Paula veränderte dann alles. Seine Reisen wurden länger und zwischen ihm
und Viktoria wurde die Entfremdung immer größer.
Er schloss die Augen und vor seinem geistigen Auge
tauchte die Gestalt von Sylvia auf. Nun erst fiel ihm die Ähnlichkeit mit
Viktoria auf. Sie hatte die gleichen Augen wie Viktoria und auch die Haare
hatten den gleichen rötlichen Schimmer.
Er beeilte sich mit dem Rollstuhl zur Türe zu kommen
und öffnete diese weit und rief:
„Anna!“ Gleichzeitig klopfte er mit dem Stock auf den
Fußboden, so als könnte er damit Anna sofort erscheinen lassen.
„Was ist passiert“, Anna stand am Fuße der Treppe und
blickte hinauf, “ sagen Sie schon was!“ Sie hörte sich erschrocken und
ängstlich an.
„Kommen Sie sofort wieder herauf, nehmen Sie den
Lift.“ Er wollte nicht so lange warten, bis sie die Treppe schaffte.
„Hier bin ich, was soll das? Wie können sie mich so
erschrecken, “ tadelte sie ihn.
Er fuhr ziellos im Zimmer herum, von der Zimmertüre
zur Terrassentüre und wieder zurück.
„Ich möchte mit meiner Enkelin sprechen. Rufen Sie
sie an, sie soll sofort wieder herkommen.“
„Ich glaube nicht, dass sie herkommen wird, sie hat
Angst vor Ihnen und wird mir sicherlich nicht glauben.“
„Papperlapapp, “ er gestikulierte mit den Armen, „ich
habe nichts getan, dass Sie Angst zu haben braucht. Es ist doch keine Art,
einem alten kranken Mann zu verschweigen, dass er seine Enkelin vor sich hat
und dann auch noch wegzufahren, ohne sich zu verabschieden.“ Seine Stimme wurde
immer leiser und er sah Anna bittend an.
„Warum rufen Sie nicht selbst an? Sie ist sicher
schon im Schwesternheim angekommen.“
Sie trat hinter ihm und schob den Rollstuhl zum
Schreibtisch. Sie wählte die Nummer und übergab ihm den Hörer. Seine Hand
zitterte leicht.
„Ja, Hallo, “ es war unverkennbar Sylvias Stimme,
„wer ist da?“
Er schluckte und konnte keinen Ton herausbringen.
„Hallo!“
„Ich bin es, Dein Großvater.“
Die Stille am Telefon schien ewig zu dauern.
„Ja, aber...“, sie zögerte weiter zu sprechen.
„Bitte komm wieder zurück. Meine gestrigen Worte tun
mir leid. Das Haus ist ohne Dich schon viel zu Lange leer. Wir haben uns sicher
eine Menge zu erzählen. Ich warte auf Dich.“
Ein schon lange vermisstes Glücksgefühl, eine große
Erleichterung nahm Besitz von ihm und Tränen rollten über sein Gesicht.
„Ja, ich komme!“ Sie schrie es fast und hängte ein.
„Sie kommt.“ Er drehte sich Anna zu und sie schämten
sich Beide der Tränen nicht.
Blumen aus Glas
Er wird heute, wie
vor langer Zeit in seiner Kindheit, wieder einmal durch die Wand des
Gewächshauses ins Reich der Glasblumen gehen. Das war beschlossene Sache.
Er erinnerte sich, dass er das als kleiner Bub öfter getan hat. Doch mit der
Zeit und dem Älterwerden wurde diese Erinnerung ins Reich der Fantasie
geschoben und dann irgendwann fiel es dem Vergessen anheim. Besonders als
Großvater eines Tages verschwand; er war der einzige, mit dem er dieses
Geheimnis teilte.
Es hieß er sei wieder zur See gegangen und Großmutter schwieg beharrlich.
Irgendwann erreichte ihn die Nachricht, dass das Haus verlassen war und er als
Erbe für die Erhaltung zuständig sei. Es gab außer einem Testament von
Großmutter keine weiteren Unterlagen. Auch nicht über ihren Tod, der den
Gerüchten nach, kein natürlicher war. Sie soll der Fluss eines Tages mit sich
gerissen haben.
Dann stand das Haus viele Jahre einfach nur so da.
Er war gerade pensioniert worden und bezog das Haus, wollte den Rest seines
Lebensabends hier verbringen. Er besuchte das Grab, das Großmutter schon zu
ihren Lebzeiten gekauft und mit einem Grabstein ausgestattet hatte. Sie ließ
ihren und den Namen von Großvater eingravieren und legte dann immer ein paar
Blumen aufs Grab. Sie waren für Großvater gedacht, von dem sie nicht wusste, ob
er nun lebte oder in der Fremde verstorben war.
Dieses Grab war sein einziger Bezugspunkt zu den Großeltern, den er noch hatte.
Doch gestern, als er so an seinem Rollstuhl gefesselt, alleine im Gewächshaus
war, seine Orchideen umsorgte, sie besprühte und hin und wieder ein Blatt
entfernte, fiel ihm diese alte Geschichte wieder ein.
Er liebte seine Orchideen, sie waren für ihn wie Kinder, die er hegte und
pflegte. Fast seine ganze Zeit verbrachte er im Gewächshaus. Immer wenn eine
Orchidee verwelkte, war es wie der Tod ohne Wiederkehr eines Kindes. Was würde
er dafür geben, wenn er diese Wunderwerke der Natur für immer konservieren
könnte. Au0erdem dachte er mit großer Sorge an die Zukunft. Was wird mit seinen
Orchideen geschehen, wenn er von dieser Welt abberufen wird?
Da fiel ihm eben wieder das lange vergessene Reich der Glasblumen ein.
Aus Glas würden sie dort für ewig blühen und nie vergehen. Der Wunsch, sie für
die Ewigkeit zu erhalten, wurde daher immer stärker. Er wusste noch, dass es
nur dann funktionierte, wenn der Himmel mit Wolken-Schleiern übersät war und
sie der Wind vor sich hertrieb. Dann fiel das Sonnenlicht nur gedämpft durch
das pyramidenähnlich gebaute Glashaus. Und das trügerische Licht zauberte
damals Gestalten und Schatten auf die Glas-Wände und aus den Ecken kamen
seltsam verdrehte und verschnörkelte Triebe hervor, die wie lange gierige
Finger nach ihm griffen. Sie machten ihm Angst und er flüchtete sich dann immer
zu seinem Großvater, der draußen im Garten den Rasen pflegte und das Unkraut
jätete.
"Wollen dich die
Glasblumen wiederholen?", fragte er dann und strich ihm über den Kopf.
"Ja, sie strecken ihre Triebe durch die Wände und versuchen, mich zu
umschlingen!", rief er dann immer ängstlich.
"Du solltest keine Angst haben, kleinen Kindern und alten Leuten sind sie
immer freundlich gesinnt. Komm wir gehen gemeinsam zu ihnen."
Er nahm ihn dann immer bei der Hand und führte ihn in das Glashaus zurück bis
zu der rückwärtigen Wand, die an den Felsen stieß. Mit seinen sehnigen, von der
Gartenarbeit gezeichneten Händen, berührte er dann den Felsen und er öffnete
sich einen Spalt, der gerade so groß war, dass sie beide durchgehen konnten.
Dann schloss sich der Spalt wieder.
Drinnen standen sie vor einem großen Feld mit Sonnenblumen, die größer als er
selber waren. Die Blumenköpfe waren goldgelb glänzend und durchscheinend, sie
waren alle aus Glas. Ein leichter Wind ließ sie hin und her schwanken, dadurch
lag ein sonderbares Klirren in der Luft, das durch die Berührung der einzelnen
Blüten und Blätter entstand. Es war eine fröhliche, sich geheimnisvoll
verbreitende Melodie.
"Oh, Großvater,
das ist ja wunderschön!", rief er und bestaunte die leicht schwankenden
Stängel und gelben Blütenköpfe.
"Ja, aber bedenke, es sind keine echten Blumen, sie sind nur aus Glas. Sie
riechen nicht und sie können auch nicht wachsen. Siehst du dort den See, mit
den Seerosen? Auch alles aus Glas. Man kann in den See nicht eintauchen, die
Seerosen schwimmen auch nicht auf der Oberfläche, sie bleiben immer an ihrem
Platz. Dafür verwelken sie aber auch nicht, sie bleiben immer so wie sie jetzt
sind."
Der Großvater strich ihm damals mit der Hand abermals über den Kopf.
"Es ist aber eine unwirkliche Welt, keine Welt für Menschen aus Fleisch
und Blut."
"Ich finde das aber trotzdem wunderbar! Ich muss immer weinen, wenn eine
Blume verwelkt! Gibt es auch Orchideen hier?" Er liebte schon damals die
Vielfalt der Orchideen.
"Ja, da rückwärts, links neben dem See. Sie haben alle Formen und Farben,
die du dir vorstellen kannst und die jemals in unserem Glashaus gezüchtet
wurden. Sie stehen in Glastöpfen, sogar die Tautropfen der Blütenblätter sind
aus Glas. Und jene Orchideen, die normalerweise auf den Bäumen in den Urwäldern
wachsen sind ebenfalls vertreten, sie schwanken leicht im Wind und man kann
ihre Musik weit hören, wenn sie sich berühren. Es ist eine Zauberwelt und
schade, dass sie nur wenige Menschen betreten können. Nur unschuldige Kinder
und alte Leute können sie sehen. Aber auch nur für kurze Zeit, bis die Sonne
untergeht. Dann müssen wir wieder zurück sein, sonst werden wir auch zu Glas
und müssen für ewig hier bleiben."
Er erinnerte sich, wie erschrocken er über diese Worte war und rannte sofort
wieder zu der Stelle, wo die Öffnung vorher war. Großvater berührte diese
Stelle wieder mit seiner Hand und sie traten zurück ins wirkliche Leben.
Großmutter schüttelte jedes Mal den Kopf, wenn er ihr davon erzählte.
"Du solltest den Geschichten von Großvater keinen Glauben schenken, das
weißt du doch! Er hat eine blühende Fantasie!"
Das sagte sie jedes Mal. Er scheute dann davor zurück, ihr zu erzählen, dass
sie beide, Großvater und er, in dieser Welt waren, dass sie wirklich
existierte.
Das war vor langer Zeit.
Mit einem entschlossenen Ruck drehte er seinen Rollstuhl in die Richtung, wo
sich spezielle Züchtungen befanden. Er wählte vier Orchideenstämme aus, die in
den letzten Jahren mit internationalen Preisen ausgezeichnet wurden.
Nachdem er einen prüfenden Blick auf den etwas verhangenen Himmel geworfen
hatte, lenkte er den Rollstuhl zielstrebig in den hinteren Teil des Raumes.
Zögernd hob er seine Hand und berührte leicht zögernd, die Felswand.
Wie durch Zauberhand, als ob die Zeit stillgestanden hätte, öffnete sich wieder
ein Spalt und er konnte einfach hindurch fahren.
Wieder umfing ihn diese wundersame Welt der Glasblumen. In all den vielen
Jahren schien sich hier nichts verändert zu haben. Dieses seltsame Klirren und
melodische Klingen lag in der Luft wie ehedem. Die Blumen und Pflanzen rundum
waren bunt und fast durchsichtig. Man konnte meinen, in einem wunderbaren
Garten zu stehen. Das einzige was fehlte und fast gespenstig anmutete, war das
nicht vorhandene Gesumme der Bienen, das Vogelgezwitscher oder das Rauschen
eines Baches. Die Äste eines Baumes schienen sich zu ihm herunter zu beugen,
doch er wich aus und suchte mit den Blicken die Orchideen, von denen Großvater
damals sprach.
Er war schon eine Weile hin und her gefahren, als er sie endlich fand.
Fassungslos stoppte er seinen Rollstuhl, um die ungeheure Farbenvielfalt in
sich aufnehmen zu können.
Vom zarten Weiß bis zum strahlenden Violett und zarten Rosa fanden sich alle
Schattierungen. Mitten unter ihnen, die von Großvater gezüchtete Königin von
Saba". Eine weiße Orchidee, die tief in ihrem Kelch in ein zartes Rosa
überging und deren Blütenstab in einem tiefen Weinrot aus der Mitte
herausragte.
Und da, die von ihnen gemeinsam gezüchtete "Mondblume". Eine
flamingofarbene, mit vielen kleinen Blüten besetzte Rispe, die sich leicht zu
bewegen schien.
Sein Auge eilte von Blüte zu Blüte, er wusste noch alle ihre Namen und wann sie
zum Blühen gebracht wurden. Natürlich gab es einige, die wahrscheinlich in
seiner Abwesenheit gezüchtet wurden, doch kannte er die mit vielen Preisen
ausgezeichneten aus der einschlägigen Fachpresse.
Dann sah er ihn. Mitten in diesem Paradies aus Glas gab es eine Gartenbank.
Halb verdeckt von einem Hibiskus Strauch mit großen Blüten, saß Großvater.
Er sah wie lebendig aus und war doch ganz aus Glas. Seine braunen Augen
blickten ihn direkt an und er erschauderte. Die rechte Hand des Mannes aus Glas
hielt eine Orchidee in einem durchsichtigen Glas in Augenhöhe, so als wollte er
die Wurzel prüfen. Mitten in der Bewegung musste er erstarrt sein. Er hatte wie
immer seine Schürze an, in der einige Gartenwerkzeuge steckten. Sie waren auch
zu Glas geworden. Es stieg heiß ihn ihm auf. Wie konnte das geschehen? Hatte er
die Zeit vergessen, war er zu lange hiergeblieben? Man wird es nie ergründen
können.
Er rollte ganz nahe an ihn heran, berührte sein altes Gesicht mit der Hand und
strich darüber. Es fühlte sich kalt, glatt und leblos an. Ein wenig zögernd
stellte er die mitgebrachten Orchideen zu den anderen. Er hatte es plötzlich
eilig, wieder zurück zu fahren.
Als er durch den sich öffnenden Spalt wieder seine reale Welt betrat, atmete er
tief und gierig die Luft ein und fühlte sich irgendwie erleichtert. Das
seltsame Schicksal des Großvaters berührte ihn sehr und er fragte sich
natürlich, wie gefährlich es wirklich war, in diese fremde, unwirkliche Glas
Welt einzutauchen.
In den folgenden Tagen stand er mehrmals vor der hinteren Felswand und starrte
sie an. Es zog ihn hinüber, er wollte diese Welt wieder betreten, wollte sehen,
ob die von ihm dort abgestellten Orchideen nun ebenfalls zu Glas geworden
seien. Irgendetwas hielt ihn jedoch zurück, ließ ihn zögern.
Hörte er die leise, klirrende Musik oder gaukelte ihm nur seine Fantasie etwas
vor? Kam da nicht unter der Felswand ein gläserner Trieb hervor und drehte sich
suchend herum?
Wie von unsichtbarer Hand geschoben, rollte der Stuhl auf die Wand zu und er
musste sich mit seiner Hand abstützen. Durch die Berührung öffnete sich der
Spalt erneut und er fand sich wieder in dieser Welt aus Glas, die ihn anzog und
gleichzeitig abstieß.
Wie von Geisterhand geführt, rollte er durch sie hindurch, bis er wieder vor
Großvater zum Stehen kam.
Es war, als wäre er lebendig, seine braunen Augen blickten wie immer listig in
die Welt und doch war er völlig leblos, durchscheinend.
Er suchte mit den Blicken die gestern abgestellten Orchideen und stellte fest,
dass sie inzwischen ebenfalls zu Glas mutiert waren. Es geschah sicher, als die
Nacht hereinbrach und alles hier dunkel und kalt wurde.
Es schauderte ihm. Was war das für eine Welt? Er blickte auf seine Armbanduhr.
Er hatte noch eine Stunde Zeit bis zum Sonnenuntergang.
Er wollte diesmal auch die andere Seite erforschen und drehte den Rollstuhl
rechts herum. Da stockte ihm der Atem. Nicht weit von seinem Standort und dem
des Großvaters stand mit erhobenen Händen Großmutter.
Oh, war auch sie gefangen in dieser Welt, aus der es keine Rückkehr mehr gab?
Im Gegensatz zu dem alten Mann, der ruhig und entspannt erschien, drückte sie
das helle Entsetzen aus. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ja traten ihr fast
aus den Höhlen, der Mund zum stummen Schrei geöffnet und die Hände in
Verzweiflung erhoben.
Der Sonnenuntergang musste sie in dieser Verfassung überrascht haben. Es musste
augenscheinlich plötzlich geschehen sein, keine Zeit zu Flucht oder Rückzug
vorhanden. Doch wie kam sie hier her? Sicher hatte sie das Verschwinden ihres
Mannes überrascht. Vielleicht fiel ihr irgendwann die Geschichte mit den
Glasblumen ein. Sie wusste aber sicher nichts über das Zeitfenster, über die
Einschränkung zwischen Tag und Nacht. Das musste die Falle gewesen sein, in die
sie geriet.
Er spürte, wie plötzlich Panik in ihm aufstieg. Er wollte nur raus, zurück in
seine Welt. Durch die heftige Bewegung des von ihm gesteuerten Rollstuhles
ausgelöst, stieß er an einen der Sträucher an und es brach einer der Äste ab.
Es war ihm als hörte er plötzliches Zischen, es lag in der Luft, doch war nicht
zu eruieren, woher es kam.
Schlingpflanzen gleich, umschlangen plötzlich Triebe die beiden Räder und
brachten ihn zum Stehen. Sie waren leicht gewunden, seltsam gedreht und
bedeckten den Boden. Sie schienen als einzige zu leben, bewegungsfähig zu sein.
Er erkannte sie; es waren diese Triebe, die ihn schon immer hinein ziehen
wollten in ihre Welt.
Mit einem Ruck befreite er sich aus den Schlingen, es brachen auch einige ab.
Das Zischen war noch immer zu hören. Er versuchte unter Zuhilfenahme seines
Stockes diese Triebe abzuwehren und hatte teilweise Erfolg. Er kam der
Fels-Wand, die das Leben bedeutete, immer näher, erreichte das Ziel mit letzter
Anstrengung und konnte den Spalt gerade noch passieren, bevor das Tageslicht
ganz erlosch.
Keuchend stoppte er den Rollstuhl und lehnte sich zurück. Dann griff er wieder
an das Rad, um das Glashaus zu verlassen.
Mit Entsetzen stellte er fest, dass die beiden gro0en Räder bis zur Hälfte
bereits aus Glas waren und ebenso seine Beine von den Knien abwärts.
"Nein!", sein Schrei verhallte ungehört. Wer sollte ihn hören?
Das Glashaus stand hinter dem Haus, angelehnt an die Felswand und umgeben von
einem kleinen Wäldchen. Er bewohnte das Haus allein, nur am Morgen kam eine
Haushälterin, um sich um die Belange zu kümmern.
Wie von Sinnen begann er seine "Kinder", die einzelnen Orchideen,
zusammen zu raffen, tauschte sie wieder aus und nahm andere dazu.
Er hatte plötzlich nur mehr einen Wunsch, er wollte zurück in diese Glas Welt,
um seine Orchideen dort einzugliedern, sie für immer zu konservieren und mitten
unter ihnen für alle Ewigkeit mit ihnen verbunden zu sein.
Die ganze Nacht fuhr er wie von Furien gehetzt umher, versorgte mit letzter
Kraft die restlichen Blumen, die er nicht mitnehmen konnte.
Als der Morgen langsam aufstieg, das Tageslicht sich in den Glasflächen brach,
fuhr er ungeduldig zur rückwärtigen Felswand und berührte sie.
Der Spalt ging sofort auf und er rollte, ohne noch einmal zurück zu blicken, in
die Welt des Glases. Er merkte gar nicht, dass sich der Spalt wieder schloss.
Für ihn gab es keine Wiederkehr, er hatte sich entschlossen, gemeinsam mit
seinen "Kindern" für ewig hier zu bleiben.
Als er bei der Bank ankam, auf dem Großvater saß, blieb er ruckartig stehen.
Ja, hier war sein Platz. Gemeinsam sollten sie ihre Orchideen bewachen. Er
ordnete die mitgebrachten Blüten nach Farben und stellte sie zu den anderen.
Dann blickte er stundenlang in das so vertraute Gesicht und es erschien ihm,
als wollte der alte Mann etwas zu ihm sagen. Doch nun, wo auch er schon alt
war, erschien ihm auch das nicht mehr wichtig.
Als sich die Sonne langsam neigte und die Nacht langsam aus allen Ecken kroch,
spürte er wie die Mutation bei ihm begann. Er fühlte sich kalt und bewegungslos
an und wartete auf den Tod.
Doch hier irrte er entsetzlich.
Er wurde zwar zu Glas, erstarrte in seiner letzten Bewegung, doch sein Geist
blieb wach, seine Gedanken rotierten weiter, alles ging ins Leere, er war
Gefangener einer Hülle aus Glas.
Es wurde ihm bewusst, dass es auch den beiden anderen so ergehen musste. Sie
sahen alles um sich herum, konnten denken aber nicht fühlen.
Wie lange wird es dauern, bis der Wahnsinn von seinem Geist Besitz ergreifen
wird?
Langsam kroch das Entsetzen in ihm hoch. So hatte er es sich nicht vorgestellt,
doch es gab keinen Weg zurück.
DER
WEIHNACHTSBÄR
Hallo Max,
Erinnerst
du dich an die kleine Hütte in Südtirol, auf dem Weg zwischen dem Lago Misurina
und Tre Croci, in der wir unsere Weihnachtstage in völliger Abgeschiedenheit
verbringen wollten?
Totale Stille, der kleine See bei Misurina lag dunkel und völlig still
da, als hätte er ein großes Geheimnis zu bewahren. Selbst bei Tage erschien er
mir unheimlich, ja abweisend. Ob das daran lag, dass er immer sehr kalt und
unbewegt ist?
Er ist eingebettet zwischen dem Sorapis und dem Monte Cristallo, rundum
einige besonders schöne Hotels, versetzt in die majestätische Kulisse der
Bergwelt.
Rundherum lag der weiße, glitzernde, unberührte Schnee. Er erinnerte
mich an eine weiße Decke, die alles unter ihr liegende schützend zudeckt.
Hast du das alles überhaupt registriert, in dich aufnehmen können?
Es war gleich in einer der ersten Nächte, wo ich ihn bemerkte. Er
erschien zwischen den Bäumen, verschwand manchmal hinter einem dicken
Baumstamm, oder saß auf einem Baumstumpf und blickte unentwegt zu uns herüber.
Mein erster Gedanke war, es ist ein Bär! Doch das verwarf ich sofort wieder,
weil erstens Bären hier fast nie vorkommen und zweitens menschenscheu sind.
Er verschwamm mit der Landschaft, war ein Teil von ihr. Sein Gesicht
konnte ich nicht ausnehmen, er trug einen weiten Hut mit Krempe und einen ebenfalls
weiten Mantel. Nach einigen Tagen war es für mich ganz selbstverständlich, dass
er da war. Manchmal grüßte er mit dem Hut in der Hand.
Seine Anwesenheit ließ damals schon die Luft und meinem Innersten
flimmern.
Ich verstand gar nicht, wieso du ihn nicht bemerktest. Ich machte dich
einige Male auf ihn aufmerksam, doch immer, wenn du dann in seine Richtung
blicktest, war er verschwunden.
Als du mich dann unvorhergesehen für einige Tage allein ließest, verschloss ich
ängstlich die Eingangstüre, nicht ohne vorher einen forschenden Blick in die
Umgebung zu senden. Es war niemand zu sehen.
Da es aber ein strahlender Tag wurde, überwand ich meine Ängste,
schnallte meine Skier an und begann in der Nähe der Hütte herum zu fahren. Wie du weißt, bin ich eine begeisterte
Langläuferin und genoss diese Stille und Einsamkeit daher auf der gut
ausgebauten Loipe.
In einem kurzen unaufmerksamen Moment glitt ich auf einer kleinen Welle
aus und stürzte. Der stechende, plötzliche Schmerz in meinem Knöchel
signalisierte nichts Angenehmes.
Ich lag im Schnee und konnte mich vor lauter Schmerz kaum bewegen.
Er kam langsam auf mich zu, mir blieb der Atem weg, als er sich bückte,
mich wie ein kleines Kind aufhob und ohne auch nur ein Wort zu sprechen mit mir
in die Richtung unserer Hütte schritt.
Mein Herz blieb fast stehen vor Verwirrung, Angst und
Fassungslosigkeit. Ich wagte es nicht, ihn anzusehen.
„Übrigens, mein Name ist Tonio, ich bin hier der Förster. Ihr Freund,
der Ihnen die Hütte zur Verfügung stellte, ist mein Cousin. Er hat mich
telefonisch informiert. Hat er Ihnen das nicht gesagt? Ich sollte auf sie
aufpassen, habe wohl versagt!“
„Oh, sehr erfreut. Nein, zu mir hat er nichts gesagt, vielleicht zu Max;
und Nein, sie haben nicht versagt, ganz im Gegenteil!“, Ich spürte, wie mir die
Röte in die Wangen schoss.
Bei der Hütte angekommen, ließ er mich sanft auf die Bank gleiten und
streckte seine Hand fordernd aus. Er wollte den Schlüssel, den ich mit
zitternder Hand aus meiner kleinen Tasche am Gürtel hervorholte.
Im Inneren der Hütte setzte er mich auf die Bank beim Herrgottswinkel
und kniete vor mir nieder, um mir vorsichtig und mit besorgtem Blick zuerst den
einen, dann den anderen Schuh auszuziehen.
Er ging dabei sehr zart und zögerlich mit meinen Füßen um und blickte
mich immer wieder fragend und besorgt an.
Ich lächelte ihn an. Wieso hatte ich eigentlich plötzlich keine Angst
mehr vor ihm?
„Oh, die Waldfee kann ja lächeln!“
Ich fasste mich und blickte ihn das erste Mal voll an.
Sein von der Sonne gebräuntes Gesicht hatte eine Menge sympathischer
Falten, die blauen Augen waren klar und strahlend und hatten rund herum kleine
Lachfältchen.
„Ich danke Ihnen, sie waren ja im richtigen Moment am rechten Ort!“,
versuchte ich zu scherzen.
„Bin ich immer, kleine Frau,“ sagte er mit einem Lachen in der Kehle
und stand auf.
„Ich werde die Schuhe in den Vorraum stellen und dann ihre Skier holen!
Er richtete sich auf und sah fragend auf mich nieder.
„Soll ich mit dem Mini-Car kommen und sie nach Cortina zum Arzt fahren,
vielleicht haben sie sich ja was gebrochen? Wo ist eigentlich ihr Mann?“
Hörte ich da eine kleine Entrüstung in seiner Stimme, dass du nicht da
warst, wo ich doch so verletzt bin!
Da hörte ich mich überraschend sagen:
„Das ist nicht mein Mann, ist mein Freund und er kommt erst wieder in
zwei Tagen.“
Er stand vor mir und schaute mich forschend und fragend an, sagte aber
nichts.
Als er gegangen war, schleppte ich mich in die Schlafkammer, entledigte
mich der nassen Kleider, schlüpfte in den wärmenden Hausanzug und versuchte
unter kleinen Schmerzensschreien, frische, dicke Socken überzustreifen.
Schmerzhaft war nur das linke Bein, das andere war unverletzt.
Dein SMS kam ganz unerwartet und traf mich tief.
„Muss noch zwei Tage anhängen, tut mir leid. Amüsiere dich. Kuss Max“.
Na, du hast gut reden! Nun saß ich da, alleine mit einem Weihnachtsbaum
und ein paar Kerzen!
Da hörte ich schon draußen das Motorengeräusch eines Mini-Cars und
gleich darauf flog die Türe auf und mein „Bär“, wie ich ihn inzwischen bei mir
nannte, stand im Türrahmen.
„Also, wo haben sie denn eine Jacke und eine Decke, wir fahren nach
Cortina zum Arzt und ich bringe sie dann auch wieder hier her zurück.“
Wie im Trance reichte ich ihm beides und steckte mein Handy rasch in
der Jackentasche, als hätte ich Angst, er könnte dein SMS von soeben lesen.
Als wir zurück kamen lag die Dämmerung schon wie eine dunkle Decke über
der Landschaft, aus dem im Tal liegenden Cortina konnte man hier und dort
Lichter aufblitzen sehen und als wir bei der kleinen Kapelle in Alvera
vorbeifuhren, hörte ich Frauenstimmen das abendliche Mariengebet lesen.
Dieses Mal konnte ich, gestützt auf seinen Arm schon selbst in die
Hütte gehen, das Bein war fest verbunden und ich hatte eine kleine Schiene beim
Knöchel. Gebrochen war nichts, nur eben angeschlagen.
Drinnen war es warm und gemütlich; mein Bär legte einige Scheite Holz
in den herunter gebrannten Kamin, es begann zu knistern und einige kleine
glühende Holzstückchen sprangen heraus.
Am Boden vor dem Kamin hockend versuchte er mit dem Schürhacken die
Scheite in die richtige Lage zu schieben. Er hatte seinen schwarzen Mantel und
die wattierte Jacke ausgezogen und ich betrachtete verstohlen seinen breiten
Rücken, als ich, ein wenig humpelnd, bei der Kochstelle eine einfache
Brettl-Jause richtete.
Man konnte durch das karierte Hemd seine breiten Schultern und den
muskulösen Rücken erahnen. Er war nach vorne zum Feuer gebeugt und der rote
Schein des Feuers zauberte Lichter in sein dunkles Haar. Kleine Schauer liefen
meinen Rücken auf und ab, er faszinierte mich.
„Kommen sie, ich habe was zu essen gerichtet, aber die Flasche Wein
müssen sie aufmachen“, ich hielt ihm die Flasche hin als er sich mir zuwandte.
Ich zitterte plötzlich, sein Blick erinnerte mich an die dunklen
Nischen meines Ichs, weckte tief verschüttete Bedürfnisse, ließ meine Knie
weich werden.
Ja Max, dieses Gefühl fehlte schon lange zwischen uns, du hast unser
Feuer scheinbar niederbrennen lassen und nun fror ich manchmal.
Er stand auf, nahm mir die Flasche Wein aus der Hand, holte die beiden
Gläser und das Holzbrett mit den Broten und stellte alles auf den Boden vor dem Kamin.
Seine Bewegungen waren zwar ruhig und bedächtig, aber voller Spannung.
Als er so vor mir stand, mit seinem offenen Lächeln, das seine Zähne
zeigte und die Fältchen bei den Augen vertiefte, gaben meine Knie nach.
Er deutete das anscheinend zwar anders, und bevor ich stürzen konnte,
hob er mich schnell wieder hoch und ließ mich vorsichtig auf das dicke
Bärenfell niedersinken.
„Wir werden hier vor dem Kamin bleiben, die Wärme genießen und ich
werde ihr Bein auf einem Polster hoch lagern. Es tut sicher weh?!“
Ohja, es war ein wunderbares Gefühl von diesem großen, fürsorglichen
Bären umsorgt und umhegt zu werden. Daher nickte ich sehr heftig, obwohl der
Schmerz kaum mehr spürbar war.
Er nahm wie selbstverständlich von der Sitzbank das größte und dickste
Polster, schob ihn hinter meinen Rücken, einen anderen Polster legte er unter
mein Bein und ließ es langsam und sanft darauf sinken. Die Hütte verwandelte
sich plötzlich in eine urgemütliche Bärenhöhle mit Kamin.
Oh, ich war seinen tiefblauen Augen schutzlos ausgeliefert, sein Blick
durchfuhr mich wie ein Blitz und ich beschloss, dich vorläufig einmal, einfach
zu vergessen.
Und es gelang mir mühelos.
Das Feuer leuchtete durch das dunkle Rot des Weines, ließ ihn funkeln
und so schmeckte er dann auch.
Ich lehnte mich in den dicken weichen Polster zurück, hörte seiner
Stimme zu, die von seinen Erlebnissen mit den Tieren und dem Wald erzählte und
spürte, wie sich langsam in meinem Inneren eine wohltuende Unruhe breitmachte.
Die Wärme stieg in mir auf, verbreitete sich wohlig in meinem Inneren,
unsere Hände berührten sich immer wieder wie zufällig beim Anstoßen, unsere
Blicke bekamen plötzlich Widerhaken, konnten sich kaum voneinander lösen und
wir bemerkten gar nicht, dass die Scheite im Kamin langsam niederbrannten.
Er hat begonnen meine Füße, die in dicken weißen Socken steckten zu
massieren, dann die Socken abzustreifen und die Massage fortzusetzen. Du weißt ja,
das löst bei mir explosionsartig Empfindungen aus, beginnend an den Beinen,
hinauf bis in den Unterbauch, macht mich unruhig und kleine Seufzer und tiefe
Töne entringen sich meiner Kehle. Er genoss es und machte, als würde er es
nicht bemerken.
Es wird ewig ein Geheimnis bleiben, wie sich zwei Menschen plötzlich in
einer Umarmung wiederfinden, die sich vorher fast nicht gekannt haben.
Knöpfe, Ösen oder Verschlüsse gehen scheinbar von selbst auf, Hände
finden sich auf nackter Haut wieder, erforschen den Körper des anderen. Finden
beglückende Reaktionen, vertiefen Empfindungen und werden von Emotionen
mitgerissen.
Seine
Hände auf meiner Haut, in Tiefen und Höhen meines Körpers, seine Zunge an
empfindlichen Stellen, seine Stimme in meinem Ohr, alles zusammen löste die
Lust aus ihrer lauernden Ruhe und ließ sie wild tanzen.
Es gibt Stellen an meinem Körper, die ich noch nie so klingen hörte,
als an diesem ersten Abend. Punkte, die plötzlich erwachten, Signale
aussendeten und wie Feuer brannten. Irgendwann loderte der ganze Körper und
wurde zum Flächenbrand.
Wir kehrten erst wieder in die Wirklichkeit zurück, als das Feuer im Kamin
ganz heruntergebrannt war.
Irgendwann fand ich in mein Bett und mein Bär verließ unsere Höhle.
Deine nächsten SMS´s las ich mit großer Gleichgültigkeit, sie klangen
immer gleich und signalisierten immerwährend deine weiter andauernde
Abwesenheit.
Mein einziges SMS an dich lautete dann schlussendlich:
„Streiche meine Telefonnummer aus deinem Verzeichnis“ und das meinte
ich ernst.
Meine Tage gehörten der Langlaufloipe, kurzen Einkäufen und kleinen
Spaziergängen, doch die Abende gehörten ihm, meinem Bären aus den Dolomiten.
Wunderbare Abende, glühende Scheite im Kamin, glühende Körper davor.
Heiße geflüsterte Bekenntnisse, erbarmungslose Fingerkuppen und fordernden
Zungenspitzen, wilde Ritte durch noch nie erlebte Höhen und ermattete, weiche, biegsame
Körper.
Am Weihnachtsabend holte mein Bär das Tannenbäumchen, dass wir vor der
Hütte angelehnt hatten und schmückte es nach meinen Anordnungen. Es war äußert
spannend zu beobachten, wie seine großen und ungeübten Finger die Kerzen
befestigte und wir lachten herzlich. Unsere Stimmung wurde immer übermütiger
und herzlicher. Die Flasche eines Südtiroler Rotweins wurde inzwischen leer und
wir sangen dann sogar leise Weihnachtslieder. Als die Kirchenglocken aus
Cortina zu uns heraufdrangen, standen wir vor der Hütte, er hatte einen Arm um
meine Schultern gelegt und wir küssten uns.
Ich bin dann ohne dich abgereist, da die zwei Wochen vorbei waren, Zwei
wunderbare Wochen mit bleibender Erinnerung an die erhabene Schönheit und
Wildheit der Natur, rotglühende Sonnenuntergänge und leidenschaftlichen Nächten
mit einem Weihnachtsbären.
Ich sehe nun die Welt der Bären in ganz anderem Licht. Sicher werde ich
wiederkommen, meinen Bären suchen und mich mit ihm in einen temporären
Winterschlaf in eine der zahlreichen Höhlen in den Dolomiten begeben.
Schade, dass du so gar nichts von einem Bären hast.
DREHTÜRE
IN DIE VERGANGENHEIT
Nachdem Albert Gabini das Hotel durch die breite Drehtür betreten hatte,
saß er nun in der Hotellounge in einer der Fauteuils und betrachtete die sich
ihm darbietende Geschäftigkeit und die sich rundum bewegenden Personen. Die
Geschäftigkeit in der Hotellounge erstaunte ihn. Irgendwas war anders, als in
den vergangenen Tagen. Er konnte das beurteilen, denn er las jeden Abend noch
in den herumliegenden Zeitungen, bevor er sich in seine Suite begab.
Nachträglich schien es ihm, als wäre die Drehtür heute schlecht
eingestellt, denn er wurde zweimal hindurch geleitet. Es war wie ein großer
Schwung, der ihn hineinführte, wieder hinaus und dann gleich wieder hinein.
Er fand außerdem, dass sich ungewöhnlich viele Personen in der Halle und
auf der Treppe befanden.
Manche der Personen gingen aneinander vorbei, als würden sie sich nicht
sehen, andere wieder grüßten sich, blieben stehen und sprachen sogar
miteinander.
Irgendwie passten einige nicht herein; sie waren in einer Art gekleidet,
die ihn an frühere Zeiten erinnerten, die er nur von Bildern oder alten Filmen
kannte.
Teilweise schienen sich einige Gäste langsamer, wie zeitverzögert zu
bewegen. Oder doch nicht? Dies betraf vor allem jene Gäste und auch das
Personal, welche so anders gekleidet waren.
Es musste an der Hitze liegen die seit einigen Tagen die Stadt lähmte, dass
er solche Eindrücke hatte, anders war das nicht zu erklären.
Durch die Drehtür, die dauernd in Bewegung war, trat nun eine Dame, eine
junge sehr elegante Dame ein, gefolgt von einem Mann im Chauffeur-Livree, der
vier Koffer schleppte. Zwei kleinere hatte er unter den Armen eingeklemmt und
zwei große schob er vor sich hin.
Er sah sie bewundernd an, konnte seinen Blick kaum von ihr wenden.
Die junge Frau würdigte ihm keines Blickes, sondern ging langsam und sich
ihrer Wirkung bewusst auf die Rezeption zu.
Sie war groß gewachsen, hatte ein knöchellanges, enges Kleid an, das vorne
etwas kürzer war und ihre schlanken Beine ahnen ließ. Ein langer Pelzschal war
um ihren Hals geschlungen und hing ihr rückwärts bis zur Kniekehle hinab.
Sie trug eine enge Kappe, glitzernd und funkelnd mit einer schräg
angebrachten Feder, in der Hand einen langen Zigarettenspitz aus Jade. Sie
wirkte wie aus einem Film über den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.
Er sah sich um, vielleicht wurde auch wirklich hier ein Film über diese
Zeit gedreht, das würde diese seltsamen Kostümierungen erklären.
Es bewegten sich zwei Hotelpagen in der Mitte der Halle. Er bemerkte, wie
einer der beiden sofort mit seinem Kofferwagen zu dem Mann mit den vielen
Gepäckstücken eilte, der andere schien ihn gar nicht zu bemerken, ja er blickte
einfach durch ihn hindurch.
Die junge Dame war inzwischen an der Rezeption angelangt und schlug mit der
Hand auf die Klingel. Einige der Gäste, aber ausschließlich jene die ein wenig
nostalgisch gekleidet waren, drehten sich um, die anderen wieder beachteten sie
gar nicht, als würden sie sie nicht einmal sehen.
Es schienen sich zwei verschiedene Ebenen gleichzeitig in einem Raum zu
bewegen. Es war unfassbar!
In der Rezeption waren zwei Angestellte tätig. Der eine war ein etwas
älterer Mann, offenbar der Chef-Portier, mit einem Schnurrbart und enger
gestreifter Weste, der andere war ein junger Mann, etwas salopper gekleidet,
mit offenem Hemdkragen, Schal und schwarzer Weste.
Zu seiner Überraschung beachtete der jüngere Angestellte die wirklich sehr
attraktive junge Dame gar nicht und beschäftigte sich weiter mit dem Einordnen
von Briefen in die Fächer der Gäste. Der Ältere jedoch begrüßte die junge Dame
überschwänglich, als würde er sie schon lange kennen.
Der Chauffeur stellte die Koffer nun ab und bedankte sich bei dem Pagen und
er konnte sehen, wie er ihm einen Geldschein gab. Dann drehte sich der
Chauffeur um und ging durch die Drehtür nach draußen.
Albert stand sofort auf und ging ebenfalls durch die Drehtür nach draußen,
um zu sehen, welchen Wagen er fuhr.
Die Hitze schlug ihm entgegen, es flimmerte die Luft. Der Chauffeur war
nirgendwo zu sehen. Er schloss für einen Moment die Augen und beschloss, wieder
in das Hotel zurück zu gehen. Er konnte auch keinen Wagen sehen, der wegfuhr,
oder sich am Parkplatz einparkte. Er schüttelte den Kopf und verstand gar
nichts mehr.
Als er durch die Drehtür wieder die Hotelhalle betrat, blieb er verwundert
stehen.
Es waren nun nicht mehr so viele Gäste da, auch der zweite Page war
verschwunden und der junge Rezeptionist war auch nicht zu sehen.
Vielleicht träumte er auch nur? Doch auch nach einigen Augenblicken und
zweimaligem tief einatmen, war die Situation unverändert.
Die Gäste unterhielten sich und bewegten sich wie vorher, bedächtig und
langsam, doch sie waren nun alle in dieser nostalgischen Mode gekleidet, die er
schon vorher registriert hatte. Die anderen Gäste waren nicht zu sehen.
"Gehen sie mit mir auf einen Drink in die Bar?" Sie stand vor
ihm, jung und elegant, wie sie ihn bereits vorher beeindruckt hatte Sie hielt
wieder diesen langen Zigarettenspitz aus Jade zwischen ihren langen Fingern,
hielt ihn mit ihren weißen kräftigen Zähnen fest und lächelte. Sie hatte grüne
Augen und erinnerte an eine Tigerin.
"Ja, ich würde mich freuen!" Sagte er das wirklich?
Sie hakte sich unter und sie gingen in die kleine Bar links neben der
Rezeption.
Sie schwang sich auf den Barhocker und dabei rutschte ihr enges Kleid
ziemlich weit nach oben und ihre Beine schienen überhaupt nicht enden zu
wollen.
War es hier immer so heiß?
"Wir möchten zwei Gläser Champagner, Kellner!" Ihre Stimme war
etwas schrill und eine Spur zu laut.
"Monsieur Alfredo hat schon nach Ihnen gefragt, Mademoiselle!"
Ihm fiel auf, dass der Kellner einen tiefen warnenden Ton in der Stimme hatte,
oder täuschte er sich da?
"Achja? Ich bin eben erst gekommen. Nun habe ich aber keine Zeit, habe
einen Freund getroffen, sehen sie das nicht?"
Der Kellner zuckte mit der Achsel und wand sich wieder seinen Gläsern zu.
Er konnte bemerken, wie ihm der Kellner einen seltsamen Blick aus den
Augenwinkeln schenkte und seine linke Augenbraue leicht nach oben zog.
Die junge Dame hielt das Glas in ihrer Hand und schenkte Albert ein
charmantes Lächeln.
"Prost, mein Freund! Wie heißen sie eigentlich?"
"Mein Name ist Albert, Albert Gabini, auf Ihr Wohl", er verneigte
sich leicht und stieß mit ihr an.
"Michelle Rochas", sie neigte leicht den Kopf zur Seite und
schenkte ihm ein kleines Lächeln.
Sie setzten beide das Glas an die Lippen und er spürte das Kribbeln des
Champagners auf seiner Zunge.
In diesem Augenblick flog die Glastür der Bar auf und es betraten drei
Männer den Raum.
Er wusste sofort, der Mann in der Mitte war Monsieur Alfredo!
Sein weißer Anzug saß tadellos, sein Hut hatte eine etwas größere Krempe,
die tiefrote Blume an seinem Jackett hatte dieselbe Farbe, wie sie die Lippen
von Michelle zeigten.
In der Hand trug er einen schwarzen Stock mit einem Silberknauf, den er
nervös drehte.
Seine Füße steckten in Schwarzweiß gemusterten Schuhen und er wippte mit
ihnen leicht von vorne nach rückwärts.
Die beiden Männer hinter ihm blickten streng und wie es Albert schien,
drohend in seine Richtung und hatten jeweils beide Hände lässig in den
Jackentaschen.
Es war wirklich heiß hier drin!
Michelle war von Barhocker gerutscht. In einer Hand hielt sie nach wie vor
das Glas, in der anderen Hand ihren Zigarettenspitz.
"Wer ist das?" Alfredos Stimme war leise und drohend und sein
Blick verhieß nichts Gutes.
"Ein sehr charmanter und lieber Freund!" Sie warf den Kopf nach
hinten und lachte laut.
"Ja, ist schon gut, du bist betrunken, wie immer! Verabschiede dich
und komm her!" Seine Stimme war nun lauter, herrischer und klang, als
würde sie keinen Widerspruch vertragen. Er schnippte mit den Fingern und drehte
sich halb um.
"Komm´ doch du her, ich stelle dich vor! Und außerdem will ich dir
sagen, dass ich keine Lust mehr habe, immer sofort zu kommen, nur, wenn du mit
den Fingern schnippst. Ich bin ja kein Schoßhündchen!"
Albert hielt die Luft an und seine Blicke gingen zwischen den beiden hin
und her. Es war eine ungeheure Spannung im Raum.
Er griff in seine Jackentasche auf der Suche nach dem Feuerzeug. Eine
Zigarette war im Moment das Einzige für ihn, um die Spannung abzubauen.
Er hat es nicht bemerkt, als der Mann im weißen Anzug gleichzeitig in die
Tasche seines Jacketts griff und einfach durch den Stoff hindurch auf ihn
schoss.
Doch Michelle hatte es bemerkt, vielleicht sogar erwartet. Sie warf sich
dazwischen und sank im nächsten Moment getroffen zu Boden.
Der Schuss war laut und sein Widerhall blieb sekundenlang im Raum.
Albert beugte sich über Michelle, schob seinen Arm unter ihren Rücken und
hielt ihren Kopf.
"Sie haben zu lange gezögert, sie hätten schneller schießen
müssen!" Flüsterte sie, bevor das Leben aus ihr entwich.
"Kellner, so holen sie doch die Polizei und einen Krankenwagen, sie
stirbt!"
Der Kellner beugte sich über die Theke und sah ihn fragend an.
"Was machen Sie denn da unten? Sind sie vom Barhocker gestürzt?"
Albert schaute erstaunt um sich und erhob sich. Er war der einzige Gast in
der Bar. Der Kellner war herbeigeeilt und stützte ihn besorgt.
"War ich nicht mit einer jungen Dame an der Bar, und waren da nicht
gerade noch drei Männer an der Türe?"
"Nein sie waren alleine, haben aber seltsamer Weise zwei Gläser
Champagner bestellt. Ich dachte sie erwarten jemand."
Der Gast legte eine Banknote auf die Theke und wandte sich der Türe der Bar
zu. Als er in die Hotelhalle hinaustrat bot sich ihm ein verändertes Bild dar.
Es war noch immer ein lebhaftes Treiben in der Halle. Doch die Leute von
der Filmgesellschaft waren scheinbar alle verschwunden.
Er trat an die Rezeption.
"Meinen Schlüssel bitte, Zimmer 332", bat er den jungen
Rezeptionisten, der ältere Portier war scheinbar auch nicht mehr da.
"Hier bitte! Ist ihnen nicht gut, sie sehen so blass aus?"
"Ich war eben in der Bar, dort ist es ein wenig dunkel."
"Ach, in unserer Michelle-Bar!" Der junge Mann lächelte
geheimnisvoll.
"Michelle-Bar?" Seine Neugier war geweckt.
Es war wirklich heiß hier drin!
"Ja, so heißt sie", er senkte die Stimme zu leisem Flüstern,
"es wird erzählt, dass im Jahre 1923 in dieser Bar Michelle, die Geliebte
des damaligen Hotelbesitzers Monsieur Alfredo, erschossen wurde. Es wurde nie
eindeutig geklärt, wer sie erschoss. Man nahm an, es war ein Fremder, der in
der Bar war. Doch der Fremde konnte flüchten und wurde nie gefunden. Monsieur
Alfredo verkaufte in der Folge das Hotel. Er verschwand dann irgendwann und
wurde niemals wiedergesehen. Man sagt, Michelle spukt noch immer im Hotel, weil
ihr Tod nie gerächt wurde".
"Eine sehr interessante Geschichte!" Er nahm seinen Schlüssel und
begab sich zum Lift.
Das Feuerzeug in seiner Tasche fühlte sich kalt und fremd an.
DER
SCHWARZE TOD, Yersina pestis
Kapitel 1
Wenn unter
Städten, die Jahrhunderte Geschichtsträchtiges erlebt haben, sich Erdschicht
auf Erdschicht gebildet hat, plötzlich mit Baggern und Maschinen eben diese
Erdschichten aufgegraben und abgehoben werden, werden Kräfte frei, die sich das
menschliche Gehirn gar nicht vorstellen kann und auch gar nicht möchte.
In hochmodernen
Bürohäusern werden auf dem Reißbrett Pläne und Skizzen geschaffen, die in die
Tiefen dieser niemals toten, nur oberflächlich schlafenden Unterwelt, das
Eindringen planen, um Tunnels und U-Bahnen zu bauen.
Die Menschen in
der pulsierenden österreichischen Hauptstadt Wien hatten keine Ahnung, welche
schrecklichen Kräfte bereit sind, aus den Höhlen und natürlichen Gefängnissen
auszubrechen um sich an der Oberfläche auszubreiten und Tod und Verderben zu
bringen. Der Bau des U-Bahnnetzes weckte diese lauernden Kräfte und dunklen
Geschöpfe jäh aus ihrem Halbschlaf.
Unter dem Dom zu
St.Stephan verbergen sich Gewölbe aus frühchristlichen Zeiten. Gebeine wurden
bei Grabungsarbeiten oder Umbauten immer wieder zu Tage gefördert, sodass sich
die Arbeiter aus Aberglauben und Angst oft weigerten noch tiefer in die
unübersichtlichen Gänge und Höhlen vorzudringen.
Bereits im Jahre
1137 n.Chr. wurde der Dom zu St.Stephan urkundlich erwähnt, doch ergaben
spätere Forschungen, dass bereits seit dem Jahre 800. hier eine Kirche bestand,
auf deren Grundmauern dann die heutige Kirche zu stehen kam. Die Archive der Kirche sind nicht für jedermann
zugänglich und es ist in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder gelungen, stattgefundene,
unheimliche Begegnungen oder unerklärliche Ereignisse oder Erscheinungen geheim
zu halten.
Manche Menschen
vermeinten in mondlosen und stürmischen Nächten Grollen und Brüllen aus den
Tiefen der Katakomben gehört zu haben, manche führten sogar Todesfälle auf
diese Wahrnehmungen zurück. Es kursieren unzählige, unheimliche und
unerklärliche Geschichten und Sagen bis in die heutigen Tage.
Niemand hörte jemals
auf die mahnenden Stimmen von Wanderpredigern, oder abtrünnigen Mönchen, die behaupteten,
dass das Böse schlechthin tief unter den Gassen und alten Häusern hause und
immer wieder aus Spalten oder Ritzen entwich. Sie predigten Verdammnis und Tod,
Strafe Gottes für gottloses Leben und hielten so die zahlreichen Geschichten im
Bewusstsein der Menschen am Leben. Heerscharen von Ratten und der Schmutz in
den Straßen der Städte taten ihr Übriges dazu, um das Ausbrechen von allerlei
Krankheiten zu fördern.
Und so kam es im
Jahre 1679 zum Ausbruch der Pest in Wien. Denn das Böse, eine körperlose
schwarze Masse mit unendlich verlängerbaren Armen und gierigen Fingern, das
sich durch die Erde wühlte, verzweifelt Ausgänge und Schächte nach oben suchte,
brach zuerst in der „Leopoldstadt“, einem Vorort der damaligen Stadt Wien aus,
infizierte Ratten und Ungeziefer und schickte die todbringenden Boten so an die
Oberfläche.
Dadurch, dass die
Seuche über einen längeren Zeitraum im wahrsten Sinne des Worts, totgeschwiegen
wurde, starben rund 100.000 Menschen daran; zuerst die Armen und Schwachen, bis
sie dann schließlich auch die Salons und Paläste der Wohlhabenden erreichte und
ausgiebige Ernte machte.
Ärzte schilderten sie
in den Annalen als eine „Heimsuchung der Menschen mit Beulen,
Drüsen-Karfunkeln, braunen und schwarzen Flecken, riesigen aufplatzenden
Beulen, gefüllt mit stinkendem Eiter und Blut“ Die Menschen in der Stadt waren
voll Entsetzen und in Panik. Noch dazu lagen die Leichen todbringend oft tagelang
auf den Straßen, denn es fehlte an Siechenknechten und Totengräbern.
Durch die engen
Gassen der Altstadt, am Dom vorbei wälzten sich die Menschenmassen, mit Karren
voller Leichen und begruben sie in den vor der Stadt vorbereitenden Gruben, die
eilig ausgehoben wurden. Die Leichen wurden einfach hinuntergekippt und man
eilte davon.
Mit gierigen Armen
und geifernden Mäulern wurden die Leichen von den bösen Kräften und Gestalten
der Unterwelt darin aufgenommen und dienten dem Bösen als Nahrung und zur
Vermehrung.
In den Nächten, so
man sich ins Freie traute, konnte man auf den noch offenen Leichengruben
unheimliche, schwarze Gestalten und Schatten mit funkelnden Augen tanzen sehen
Diese Seuche konnte
erst eingedämmt werden, als man begann, die Straßen und Häuser zu reinigen,
keinen Unrat mehr einfach aus dem Fenster zu werfen.
Da mussten sich diese
bösen Kräfte wieder in den Untergrund zurückziehen und auf ihre neue Chance
warten.
Es vergingen
Jahrhunderte, in denen sie als drohende geifernde Gefahr unter unseren Füßen
lauerten und auf die Gelegenheit, nach oben zu kommen warteten.
Der moderne Mensch
verweist diese Dinge natürlich in der Reich der Fabeln und Sagen und setzt sich
über alle Warnungen der Wissenden hinweg. Beim Bau der geplanten U-Bahn wurden
Baumaschinen, Riesenbagger und Erdbohrer eingesetzt und die Erde unter großem
Getöse und intensiven Erschütterungen aufgewühlt. In dem auftretenden Lärm und
dem Getöse gingen das Fauchen und Stöhnen dieser unterirdisch lauernden
Bewohner der Stadt unter.
Im Zuge der
Bauarbeiten entstand vor dem Dom ein riesiger Krater von ca. dreißig Metern
Tiefe oder mehr. Es wurden Tonnen von Erde nach oben geschafft und mit ihr
Extremente der Ratten und anderem Getier und Gewürm. Aus den entstandenen
Erdspalten drang Ekel erregender Gestank in diese Luft und wurde von den
Männern eingeatmet.
Auch als aus einem
tiefen Hohlraum ein Heer von Ratten entwich, sich auf die Männer in den
Overalls stürzten, wurden sie mit den modernsten Mitteln der
Schädlingsbekämpfung getötet oder scheinbar vertrieben. Das Einzige was
geholfen hätte, wäre Feuer gewesen, das wurde unterlassen! Rundum gingen die
Menschen ahnungslos ihren Geschäften nach, saßen in den Kaffees und plauderten
über Belangloses, während über ihnen der Hauch des Todes seine Bahnen zog.
Kapitel 2
Erschrocken fuhr
Sabine in die Höhe. Das Telefon läutete ausdauernd und furchtbar laut.
Sie blickte auf
die Uhr neben sich. Es war kurz nach zwei Uhr morgens.
Im Halbschlaf
griff sie nach dem Telefon.
„Ja, wer stört?“
„Sabine, hier ist
Robert. Ich brauche Deine Hilfe!“
„Weißt Du, wie
spät es ist? Hat das nicht Zeit bis morgen früh?“
„Nein, wir stehen
vor einer Katastrophe, tausende Menschen sind gefährdet und es soll vertuscht
werden.“
Sabine war
inzwischen hellwach geworden, hatte das Licht angemacht und saß am Bettrand.
Warum überraschte sie dieser Anruf nicht wirklich? Es klang ganz nach Robert, immer dramatisch,
immer enthusiastisch und immer übereifrig. Ein engagierter Journalist, der aber
auch immer wieder in neue Schwierigkeiten taumelte.
„Robert, bist Du
schon wieder dabei, etwas aufzudecken? Aber um Gottes Willen, wozu brauchst Du
da mich, und noch dazu so mitten in der Nacht?“
„Was weißt Du über
die Pest?“
„Die Pest? Bist du verrückt, hast Du kein Internet um da
nachzusehen?“
„Sabine, wir haben
die Pest mitten in Wien, es gibt Tote und Erkrankte und alles soll vertuscht
werden!“
„Das wäre ja eine
Katastrophe, aber ich habe bisher davon nichts gehört und sitze doch
einigermaßen mitten im Geschehen.“
„Es gab bereits
drei Tote, die bereits beerdigt wurden, es waren alles Feuerbestattungen und weitere
fünf Erkrankte liegen auf der Isolierstation der Uni-Klinik und werden mit
Antibiotika behandelt.“
„Und was steht auf den Totenscheinen?“ fragte
Sabine.
„Diphtherie, einfach Diphtherie. Ich habe
keine Ahnung, was sie den Angehörigen über die näheren Umstände gesagt haben,
ich finde es nur seltsam, dass alle drei Verstorbenen eine Feuerbestattung
bekamen! Das kann doch kein Zufall sein!“
Sabine dachte kurz
nach.
„Wenn das stimmt,
dann ist das tatsächlich seltsam. Gibt es denn einen Zusammenhang oder eine
Verbindung zwischen den erkrankten Personen?“
„Ja, es sind
ausschließlich Bauarbeiter und Techniker von der U-Bahn-Baustelle am
Stephansplatz, die in derselben Nacht Dienst hatten. Man hat heute Morgen die Arbeiten
vorübergehend, mindestens für ein einiges Stunden, ausgesetzt und die Baustelle
gesperrt.“ Sagte Robert.
„Mit welcher
Begründung?“
„Technische
Probleme und Prüfung. Aber wenn sie Gerede vermeiden wollen, müssen sie sie bis
spätestens morgen früh wieder öffnen!“
„Robert, ich habe
da einen Studienkollegen, der arbeitet im Gesundheitsamt. Den werde ich
anrufen, vielleicht weiß er irgendwas. Aber nicht jetzt, mitten in der Nacht,
morgen früh! Gute Nacht!“
„Das kannst Du dir
sparen, sie mauern! Zieh Dich an, ich hole Dich ab und wir schauen uns das an
Ort und Stelle an der Baustelle direkt an“.
„Bist Du verrückt?
Da gibt es wohl Einiges, das dagegenspricht. Erstens wird die Baustelle sicher
bewacht sein, zweitens könnte es für uns ebenfalls gefährlich sein, uns dort
irgendwelchen Seuchen, es muss ja nicht gleich die Pest sein, auszusetzen; und
drittens riskiere ich meine Anstellung im Labor der Uni-Klinik!“
„Also, wenn es
doch die Pest sein sollte, dann ist das alles völlig gleichgültig. Du wohnst
keine hundert Meter von der Baustelle entfernt, kannst sie sogar sehen, und du
bist sicher bereits infiziert! Wir steigen da einmal hinunter und nachher gehen
wir in dein Labor und du spritzt uns ein Gegengift!“
Sabine musste
lachen, ja so stellte es sich der kleine Moritz vor!
„Sabine, bitte
versuche doch einmal, über Deinen eigenen Schatten zu springen, hast Du gar
keine Eigeninitiative, keine Abenteuerlust?“
„Robert, Du
übertreibst wieder einmal maßlos! Aber OK, ich werde mir das mit dir ansehen,
wie lange brauchst Du, bis Du hier bist?“
„Ich stehe vor
deiner Haustüre, ziehe auf jeden Fall Gummistiefel an“, sprach Robert und
klickte sich weg.
Seufzend erhob
sich Sabine, nicht ohne einen sehnsüchtigen Blick auf das Polster zu werfen und
suchte ihre Jeans und ein T-Shirt mit Jacke zusammen, zog auch die erwähnten
Gummistiefel an.
Ihre Wohnung lag
tatsächlich im Zentrum der City, keine 100 Meter vom Dom entfernt. Nachdenklich blickte sie in den Spiegel beim Stiegen
Abgang. Sollte tatsächlich aus der
Tiefe der Baugrube etwas so Grauenhaftes wie die Pest entwichen sein und
einfach einige Menschen befallen haben?
Als sie vor das
Haus trat, löste sich der Schatten Roberts aus dem Torbogen vom gegenüberliegenden
Haus. Er war ebenfalls mit einer Jacke mit Kapuze und Gummistiefeln, sowie dem
für Robert unvermeidlichen Fotoapparat bestückt.
Sie nickten sich
stumm zu und Robert ging sofort in Richtung des schwach beleuchteten Platzes
vor dem Dom.
Es war gespenstig
ruhig, niemand war zu sehen. Sabine begann bereits zu bedauern, Robert
nachgegeben zu haben. Aber irgendwie reizte das ihre Abenteuerlust und ihre
Neugierde doch.
Robert gab den Weg
vor. Er drückte sich an die Hausmauern gegenüber dem Dom, um an seine Rückseite
zu kommen. Dort war es dunkler als an der Vorderseite und dann lief er, geduckt
über den kleinen Platz und drückte sich an die Mauer der Kirche.
Sabine war stehen
geblieben und blickte sich suchend um. Es war niemand zu sehen. Immerhin war es
ja inzwischen fast drei Uhr morgens,
„Komm herüber“,
rief Robert leise und winkte ihr zu.
Wie von
Geisterhand gestoßen, lief nun auch Sabine geduckt zur Kirche hinüber und
drückte sich ebenfalls an die Mauer neben Robert.
Sie schlichen sich
nun, Robert voran, langsam zur Vorderseite und der Baugrube immer näher.
„Hörst Du auch
was?“, murmelte Robert
Tatsächlich konnte
Sabine ein Geräusch wahrnehmen, es war das schwere, mühsame Atmen eines
Lebewesens, das anscheinend mit dem Tode ringt.
„Es ist der Hauch
des Todes!“, flüsterte Robert.
„Sei nicht so
kindisch, das wird ein Wind sein“, sagte Sabine, doch es kam auch ihr ein wenig
unheimlich vor.
Sie hatten
inzwischen die hölzerne Umrandung der Baugrube erreicht und blickten hinunter.
Von hier oben erschien sie sehr tief und eigentlich drohend, musste Sabine
zugeben.
Robert hatte sich
in der Zwischenzeit gebückt und war durch die Absperrung in den inneren
Kreis der Baustelle vorgedrungen. Von einer
Wache war nichts zu sehen. Nur die Baumaschinen, die am Grund der Grube
standen, waren mit Warnleuchten schwach beleuchtet, man konnte kaum ihre
Konturen sehen.
Ich
muss verrückt sein, da mitzumachen!
Sabine schüttelte den Kopf über sich selbst, tat es Robert jedoch gleich.
„Hier ist eine
Leiter, komm und gib Acht, dass Du nicht abstürzt!“ Robert war bereits die
Leiter einige Sprossen abwärts geklettert.
Dieser dumpfe Ton
des schweren Atems verstärkte sich. Es war auch ein leises, gleichmäßiges
Klopfen zu hören. `Wie ein Herzschlag`,
dachte Sabine nachdenklich, doch es war sicher nur eine Pumpe, die vielleicht
irgendwo Wasser abpumpte, beruhigte sie sich gleich selbst.
Sie kletterten nun
schweigend abwärts, bis sie endlich am Grund der Baugrube standen. Es erschien
ihnen alles überwältigend, überdimensioniert.
Sabine war nun
froh, Roberts Ratschlag gefolgt zu sein und Gummistiefel anzogen zu haben, denn
der Boden war feucht, mit Wasserlachen übersät und rutschig.
„Merkst Du, dass
die Luft hier schwer zu atmen ist und nach Verwesung riecht?“ Robert hatte
seine Stimme gesenkt, als wollte er niemand wecken.
„Naja, ja
irgendwie schon, aber wir sind ja eigentlich unter dem Niveau der Straße und da
ist eben alles feucht“, Sabine wiegte den Kopf hin und her.
Plötzlich nahmen
sie ein seltsames Geräusch wahr. Es war als würde man eine große Menge von
Menschen essen und schmatzen hören, als würden tausend Füße in eine Richtung
laufen. Und da kamen sie, es mussten Hunderte sein. Es waren große, fast
schwarze Ratten, ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit. Sie kamen aus
Erdlöchern, aus Spalten und hinter den Baumaschinen hervor. Es war, als würden
sie nur auf sie gewartet haben. Die spärlichen Lampen der Notbeleuchtung
machten, dass ihre Augen glühten.
Sabine und Robert
ergriffen in ihrer Panik herumliegende Eisenstangen und Holzlatten und schlugen
auf die Tiere ein. Sabine sah entsetzt, dass sich eines der
Tiere am Rücken
von Robert festgekrallt hatte und schlug mit voll Wucht zu. Sie hätte Robert
fast zu Fall gebracht, doch das Biest ließ doch los und sprang nach unten.
„Wir sollten
schleunigst nach oben verschwinden“, rief Sabine. Doch die Ratten hatten sich
nun am Rande der Grube zurückgezogen und blockierten den Weg zur einzigen
Leiter, die aus der Baugrube nach oben führte.
Sie hatten sich
gegenüber mit dem Rücken zur Wand gestellt und hielten ihre einzigen Waffen,
die Eisenstangen und Holzlatten drohend erhoben in den Händen hoch.
„Sie sind klug,
sie beobachten uns und warten auf ihre Chance!“, flüsterte Robert.
Das dumpfe schwere
Atmen verstärkte sich kontinuierlich und drang von überall herbei, es kam aus
den Wänden und Rissen und Spalten des sie umgebenden brüchigen Erdwalles. Aus
verschiedenen Ritzen drang eine schwarze zähflüssige Masse, die sich am Boden formierte
und langsam in ihre Richtung kroch.
„Was ist das?“,
die Stimme Sabines war nun schrill und man hörte, dass sie Angst bekam.
„Ich weiß es
nicht, doch es stinkt schrecklich und scheint intelligent zu sein, es versucht,
uns einzuschließen, uns hier festzunageln!“. Auch Robert spürte, wie Panik und Kälte
langsam von seinen Zehen beginnend, seine Beine aufwärts krochen. Nun begannen
die Ratten wieder diese schmatzenden Geräusche zu machen und es kam Bewegung in
die homogene Masse der Tierleiber. Sie formierten sich wieder zum Angriff.
„Sie kommen, oh
Gott, sie kommen wieder!“ Robert verlor nun ebenfalls völlig die Fassung und
versuchte in seiner Angst die feuchte, abbröckelnde Wand der Baugrube zu
erklimmen
„Wir haben nur
eine Chance, wenn wir vielleicht die Baumaschinen erreichen und uns in einer
der Kabinen einschließen könnten“, Sabine versuchte ruhig zu bleiben, „ich
verstehe das nicht, Du wolltest ja da runter und erforschen, was da los ist und
jetzt hast Du Angst?“
„Ja; Du hast ja recht, aber ich erwartete
nicht, so frontal damit konfrontiert zu werden. In den Baumaschinen sind wir
nicht sicher, die sind nach unten hin offen.
Sag, wenn uns diese Biester beißen und infizieren, gibt es da ein
Gegengift?“
„Ja, ja beruhige
Dich doch, sollten sich die ersten Anzeichen von Pest zeigen. Husten und
Bläschen im Mund, wird Antibiotika verabreicht und Du kommst in
Quarantäne. Unbehandelt ist es sicher
tödlich. Wahrscheinlich ging es den drei Toten aus irgendeinem Grund so und sie
wurden Tage vorher schon von den Ratten gebissen. Man kann nur hoffen, dass sie
niemand infiziert haben! Aber die, die in der Intensivstation liegen, werden
sicher wieder gesund.“
Das wirkte
beruhigend auf Robert.
Sie hatten
inzwischen den großen Tunnel, der ins Erdinnere führte erreicht und drückten
sich dort wieder an die Wand. Aus der Finsternis formierte sich plötzlich ein
schwarzer Schatten, der sich nach oben hin verbreiterte und nun drohend über
ihnen, wie der berühmte Geist aus der Flasche, schwebte.
„Da vorne Sabine, siehst Du das?“ flüsterte
Robert.
„Ja, ich sehe
einen Schatten, wie er sich vorwärtsbewegt. Im Lichte der Taschenlampen
verändert er seine Gestalt dauernd“, flüsterte Sabine zurück.
„Oh nein, es ist
nicht das Licht, der Schatten verändert wirklich seine Gestalt. Manchmal ist er
hoch aufgerichtet, dann wieder zerfließen die Konturen und sein unteres Ende
bewegt sich am Boden dahin. Es sieht aus, als wäre es eine homogene Masse, die
sich so fortbewegt“. Robert richtete den Strahl der Lampe wieder nach vorne.
Keuchend machte er einen Schritt zurück und die Lampe entglitt seiner Hand.
Diese schwarze homogene Masse hielt inne, drehte sich um und aus der dunklen Masse
starrte ihnen ein Totenkopf aus leeren Augenhöhlen mit aufgerissenem Mund
entgegen. Aus dem Mund kam grauer Schleim heraus, der Hauch der Pestilenz lag
in der Luft.
Die Arme des
Schattens wurden dünner, aber dafür länger und wuchsen ihnen entgegen, als
würde er nach ihnen greifen wollen. Am Boden breitete sich diese dunkle
teerähnliche Masse immer mehr aus und erreichte fast ihre Beine. Sie schrien
und wichen zurück, vergessend, dass draußen in der Baugrube die Ratten auf sie
warteten.
Sie tasteten sich langsam
weiter und fanden plötzlich den Eingang in einen längeren Nebengang, in dem sie
einbogen, von dem bedrohlichen Schatten sich fortbewegend
Hier war es dunkel
und sie fühlten wieder diesen modrigen kühlen Luftzug an sich vorbei streifen.
„Oh, siehst Du das
Robert? Auch hier gibt es diese dunklen klebrigen Schatten, sie kriechen an den
Wänden und am Boden entlang, sie ähneln suchenden Fingern. Sie kommen immer
näher!“ Sabine war das Grauen anzusehen. Sah soll die Pest aussehen, wenn sie sich
verbreitete, ihre Opfer suchte?
„Wir sollten doch
versuchen wieder die Baugrube und die Leiter nach oben zu erreichen!“ flüsterte
Robert.
Als sie hinausliefen,
war das schmatzende, geifernde Geräusch stärker geworden und sie blieben wie
angewurzelt stehen. Die Tiere hatten ein Objekt für ihre Gier gefunden. Es war
allem Anschein nach der Wachmann, der die Baustelle zu bewachen hatte, der da
am Boden lag. Die Tiere hatten sich in ihm verbissen, rissen Fleischstücke aus
seinem Gesicht heraus, tranken das herausquellende Blut an seinem Hals und waren
überall in seiner Kleidung, zwei dieser Bestien rauften um einen Finger. Es war
ein grauenhaftes Bild. Und über allem schwebten diese schwarzen Schatten,
wogten bedrohlich hin und her. Es schien, dass sie sich an diesem Anblick
weidete.
Die beiden
ergriffen wahllos je eine jener Eisenstange, die zahlreich herumlagen und
versuchten die Tiere von dem Manne weg zu jagen. Doch wie es ihnen gelang,
einige zu verjagen, waren sofort wieder andere da. Sie mussten sich auch gegen
Angriffe auf sich selbst wehren, die Situation schien hoffnungslos.
Sie versuchten es
auch mit Schreien, doch ohne Wirkung auf die Tiere.
„Robert, der Mann
ist tot, wir müssen weg!“ schrie Sabine und zerrte nun ihrerseits den Freund am
Ärmel
Dieser ließ die
Eisenstange fallen und sie liefen so rasch als sie konnten zur Leiter, an der
sie herabgestiegen waren. Als sie bereits einige Stufen erklommen hatten,
blickten sie voll Angst zurück und sahen, wie aus dem großen Tunnel und auch
aus mehreren kleinen Nischen und Spalten sich noch mehr solche schwarzen
Schatten heraus wälzten und einige der Totenschädel zu ihnen aus schwarzen
Augenhöhlen heraufsahen. Ihre langen
Arme schwangen in der Luft und es schien als würden sie die Ratten nach oben
treiben wollen.
„Es ist, als
würden ihnen die Ratten gehorchen, sie versuchen die Wände der Baugrube hinauf
zu klettern, sie werden Tod und Verderben weitergeben, sie werden in die Kanäle
und Keller der Häuser gelangen, die Pest wird sich verbreiten!“ flüsterte
Robert.
Sie waren sehr
froh, als sie wieder oben waren und setzten sich erschöpft auf den Boden, um
Atem zu holen und das Entsetzliche zu verkraften.
Als eine der
Ratten die Oberfläche erreichte, stieß Robert mit seinem Fuß nach ihr und
schleuderte sie über den Rand hinunter.
Er nahm dann sein
Telefon aus der Tasche und rief die Polizei an, meldete den Vorfall und den
Toten in der Baugrube. Seine Stimme war unbeherrscht, schrill und laut und es
dauerte eine Weile bis er sich wirklich verständlich machen konnte.
Binnen kurzer Zeit
waren dann einige Polizeiautos und ein Rettungswagen da.
Einer der
Polizisten in Zivil nahm die Beiden zur Seite.
„Was haben Sie
denn, um Gottes Willen da unten gesucht? Können Sie das Schild nicht lesen?
Hier steht groß und deutlich: Betreten der Baustelle verboten. Was haben Sie da
unten gemacht?“
Robert zeigte
seinen Presseausweis her und versuchte seine Beweggründe zu erklären.
„Aha, die Pest!
Und da dachten sie, sie treffen die Pest da unten zu einem Plausch?“ die Stimme
des Beamten war schneidend und höhnisch.
„Sie werden es
nicht glauben, wir haben die Pest auch getroffen in all ihrer Hässlichkeit!“
Sabine schrie es fast.
„Haben Sie Bilder gemacht?“, fragte der Beamte
nun, mit einem Blick auf den Fotoapparat, ohne auf diese Bemerkung einzugehen,
„wenn ja, dann muss ich Sie bitten, mir den Film oder die Karte auszuhändigen!“
Doch Robert hatte
keine Bilder gemacht, da sie ja von einem Entsetzen ins andere fielen und daran
ja nicht zu denken war. Es wurde ihm erst bewusst, als er die Frage hörte und da
tat es ihm leid, dass er keine Bilder hatte. Sie würden das Erlebte niemals
beweisen können, wurde ihm sofort klar
Inzwischen hatten
die Männer der Rettung den Körper des schrecklich zugerichteten Wachmannes heraufgeholt,
in den vorbereiteten Metallsarg gelegt und den Deckel geschlossen.
„Ich muss Sie
bitten, mit aufs Revier zu kommen, ich muss ein Protokoll anfertigen und Ihre
Aussagen aufnehmen!“ Der Beamte schien keinen Widerspruch zu dulden.
Auf dem Revier
schilderten die beiden ihr Erlebnis und stießen bei den Beamten auf
Kopfschütteln und Unglauben.
„Das mit den
Ratten muss untersucht werden, ebenso der Tod des Wachebeamten. Sie dürfen die
Stadt nicht verlassen, wir haben sicher noch einige Fragen an Sie. Außerdem
wurde vorhin eine Nachrichtensperre aus dem Ministerium erlassen. Sie dürfen
also vorläufig nicht darüber berichten“.
Kapitel 3
Noch im
Morgengrauen konnten Sabine und Robert durch die zugezogenen Gardinen die
anrückende Feuerwehr sehen, konnten beobachten wie eine größere Mannschaft in
die Baugrube stieg. Sie warfen zusätzliche Strickleitern hinab. Die Männer
waren mit schwarzen Schutzanzügen bekleidet, hatten Sauerstoff-Flaschen am
Rücken und Flammenwerfer in den Händen. Der Graben, die Kärntnerstraße und die
Singerstraße, Seitengassen des Platzes, wurden abgesperrt, um sämtliche
Neugierigen fern zu halten.
Sie bekämpften
offenbar die Ratten, die zweifellos vorhandenen dunklen Schatten und die sich
ausbreiten wollenden, unheimlichen schwarzen Massen mit Feuer.
Die Beiden konnten
den Feuerschein durch die Gardinen deutlich sehen. Es war wohl die einzige und
wirksamste Möglichkeit. Als sie dann auch noch pfeifende
Geräusche, Heulen
und Stöhnen hörten, drückte sich Sabina an Roberts Brust und begann endlich
hemmungslos zu weinen.
Sabine und Robert
saßen am nächsten Abend in ihrem Stammlokal und starrten gemeinsam in die von
Robert mitgebrachte Zeitung.
Auf Seite drei,
als fast unscheinbare Nachricht, konnten sie Folgendes lesen:
„Aufgrund von
Wasser- und Schlammeinbrüchen bei der U-Bahn-Baustelle am Stephansplatz, wurde
diese für zwei Tage gesperrt. Immer wieder dringen Erdmassen und Wasser nach.
So werden die Wände nun mit Beton und Bitumen ausgekleidet. Durch Unachtsamkeit
ist auch ein kleiner Brandherd entstanden, der jedoch von der Feuerwehr sofort
unter Kontrolle gebracht werden konnte.“
Sabine stocherte
in ihrem Essen herum, sie hatte seit gestern Abend keinen Appetit.
DER
BRUNNENSCHACHT
Er steht vor der
alten Mühle seiner Eltern und gemischte Gefühle kommen in ihm hoch.
Die dunklen
mächtigen Bäume des Waldes sind noch näher an das Haus gerückt, er empfindet
ihre Schatten bedrohlich und zieht unwillkürlich die Schultern hoch.
Er hat zwar seine Kindheit hier verbracht, doch es lastet auch ein dunkles
Geheimnis auf der Vergangenheit. Das ist auch der Grund, warum er die alte
Mühle und das sie umgebende Grundstück so schnell als möglich verkaufen will.
„Ach, der Herr Moser!“ Die alte Anna steht vor ihm und mustert ihn mit ihren
kleinen listigen Augen, aus der die Neugierde nur so sprüht.
„Guten Tag, Anna!“ Da er in beiden Händen je ein Gepäckstück trägt, nickt er
nur, ohne ihr eine Hand entgegen zu strecken.
„Ist aber Zeit, dass sie einmal da vorbeischauen, die Mutter ist ja nun schon
seit einem Jahr tot und das Haus steht leer. Tut mir leid, der Selbstmord ihrer
Mutter, schrecklich.
Was glauben Sie, was sich da nachts tut? Unheimlich! Plötzlich beginnt sich das
Mühlenrad zu drehen, dann bleibt es wieder stehen. Oder es kommt Rauch aus dem
Kamin, obwohl kein Feuer im Haus sein kann. Grüner Rauch! Ich glaube Frieda
spukt da herum!“
Er lacht kurz und unwillig auf und gleichzeitig läuft es ihm kalt über den
Rücken. Er will nicht an Frieda erinnert werden!
Anna ist eine Nachbarin, die ihm und den Anderen schon in seinen Kindertagen
als alt erschienen war. Sie war immer voller Bosheit und als Kinder nannten sie
sie heimlich eine Hexe.
Er dreht sich wortlos um und geht auf das Haus zu. Da er wirklich schon sehr
lange nicht hier war, braucht es eine Weile, bis der klobige Schlüssel im
Schloss greift und sich dreht.
Im Inneren des Hauses riecht es muffelig und feucht, die Räume sind seit
Monaten nicht gelüftet worden. Die Feuchtigkeit des vorbeifließenden Baches hat
sich offenbar durchs ganze Haus und sein Gemäuer gezogen. Er öffnet alle
Fenster und Fensterläden und hofft so, dass genug frische Luft hereinströmen
wird, um wenigstens ein oder zwei Tage hier wohnen zu können.
Er erwartet gleich morgen früh einen Käufer, der das Haus und das Grundstück
kaufen möchte. Er vermutet, dass man das alte Haus wahrscheinlich abreißen
wird. Es kommt sicher viel zu teuer, die alte Mühle wieder zu renovieren.
In einer Nische der Wohnküche, die den unteren Raum ausfüllt, ist ein, nun mit
Brettern abgedeckter, tiefer Brunnen. Obwohl die Bretter die Öffnung total
verschließen, vermeidet er es, hinzusehen und geht in großem Bogen drum herum.
Es fällt ihm jedoch auf, dass die Bretter wie neu aussehen und einen Kontrast
zu den Brettern des übrigen Fußbodens bilden. Sollte der Brunnen nicht
vernagelt sein? Der Brunnen wurde schon lange nicht mehr genutzt und war früher
zwar lose mit Brettern abgedeckt, doch stand immer eine große hölzerne Truhe
darüber.
Die Truhe war nun weggerückt und stand daneben. Dies erschien ihm seltsam, doch
machte er sich keine weiteren Gedanken drüber.
Eine knarrende Treppe führt in das Obergeschoß und er wirbelt viel Staub auf,
als er nach oben geht. Langsam und vorsichtig setzt er Fuß um Fuß auf die
knarrenden Bretter und ist froh, als er heil oben ankommt. Hier bietet sich der
gleiche Anblick, alles ist verstaubt und Spinnweben hängen an der Decke.
Sicherlich starren ihn einige Augen von Mäusen und Ratten aus Spalten und
Ritzen an und beobachten ihn.
Er beeilt sich auch hier alle Fenster zu öffnen. Es sind nur zwei Räume hier
oben, der Schlafraum der Eltern und sein ehemaliges kleines Zimmer mit einem
kleinen Vorraum und einem Waschraum, der nachträglich mit einer primitiven
Dusche und einem Waschbecken ausgestattet wurde. Das Wasser wurde aus dem Bach heraufgepumpt
und war meist eiskalt.
Er beschließt, die Nacht in seinem ehemaligen Zimmer zu verbringen, welches am
ehesten bewohnbar schien. Das Bett war in all den Jahren wo er nicht mehr hier
war, mit einer Decke und einem Kunststofftuch bedeckt gewesen und wirkte daher
nicht so staubig, wie all die anderen Möbelstücke im Haus.
Er stellt seine zwei Reisetaschen auf den kleinen Tisch beim Fenster und
beginnt den Raum wohnlicher zu gestalten. Er überzieht das Bett mit der
vorhandenen Bettwäsche, stellt jedoch fest, dass sich der Polster und die Decke
irgendwie klamm anfühlen. Er legt beides auf das geöffnete Fenster und hofft,
dass die Sonnenstrahlen während des Tages sie auffrischen werden.
Die ganze Zeit über ist er bedrückt und es befällt ihn eine Nervosität, die er
normaler Weise gar nicht kennt und auch nicht erklären kann.
Den restlichen Tag streicht er durch den angrenzenden Wald, findet dabei seine
Ruhe wieder und genießt die Geräusche und Gerüche, die er immer sehr geliebt
hatte.
Die Geschichte mit Frieda taucht wieder aus seiner Erinnerung auf. Es war eine
böse Geschichte, die mit dem Verschwinden des Mädchens endete. Frieda war ein
Nachbarskind und sie spielten oft gemeinsam in der alten Mühle, warfen
Steinchen auf die Mühlräder und lachten, wenn sie in hohem Bogen auf der
anderen Seite wieder herunterfielen. Sie war ungefähr Zwölf, vier Jahre älter
als er, ein sehr frühreifes Mädchen und sie wusste das auch.
Mutter merkte immer, wenn Vater am Fenster stand und zu ihnen herausschaute und
im Besonderen Frieda beobachtete. Er wurde stets unruhig und nach einer Weile
kam er ebenfalls zu ihnen heraus. Fast immer ging er mit Frieda dann in den
alten Lagerschuppen neben der Mühle und sie kamen immer erst nach einer Weile
wieder, beide etwas erhitzt und Vater ging wieder ins Haus.
Er dachte sich damals nichts dabei, doch irgendwann später, wenn er nun
rückwirkend überlegte, wurde ihm klar, was damals geschah.
Dann konnte man hören, wie Mutter furchtbar laut schrie und Vater ihr laut
gebot, ruhig zu sein. Sie war dann plötzlich still und er konnte sie weinen
hören.
Wenn er so zurückdenkt, ist er heute sicher, dass Vater auf Mutter einschlug.
Damals, mit seinen acht Jahren konnte er sich nicht zusammenreimen, was die
Beiden wirklich in der Scheune machten. Heute schämt er sich deswegen und
tiefes Mitleid für die Mutter und dem Mädchen kommt auf.
Eines Tages, sie spielen wieder bei der Mühle und Frieda hat eines ihrer dünnen
Kleidchen mit einer dunklen Schärpe an, fällt sie in den Bach. Weinend läuft
sie, nass wie sie war, ins Haus.
Die Mutter hilft ihr aus dem Kleid und gibt ihr ein altes Hemd von Vater zum Anziehen,
bis ihr Kleid trocken ist.
Ihm fällt aber nicht auf, dass Frieda nicht mehr herauskommt, umso mehr als
Vater aus dem Dorf kommend ihn auffordert mit ihm in den Wald zu kommen und
Holz abzuführen, das er seit dem Morgen dort geschlagen hat. Er ist sofort
dabei.
Sie kommen erst spät abends wieder zurück, es ist schon fast dunkel. Das Essen
steht auf den Tisch und Mutter wartet.
„Hörst Du das auch?“ Fragt Vater und schaut in die Runde.
„Was?“ Scheinbar hört Mutter Nichts. Sie klappert mit den Tellern und singt
dabei.
„Ich höre es wimmern, wie wenn eine Katze wimmert.“
„Hier ist keine Katze!“
Sie singt noch
immer.
Vater schüttelt den Kopf und runzelt die Augenbrauen.
Er, ein kleiner Bub, versucht auch was zu hören, doch die Geräusche in der
Küche waren so laut und da vergaß er es wieder.
Sie gingen
schlafen.
So oft es ging, schickte Mutter ihn und Vater in den nächsten Tagen weg, um was
zu erledigen.
In den folgenden Tagen waren viele Menschen unterwegs um Frieda zu suchen. Sie
wurde vermisst. Trotz eingehender Suche konnte das Mädchen nicht gefunden
werden.
Anna, die damals nicht weit von ihnen weg wohnte erzählte aber überall herum,
sie hätte Frieda noch am Nachmittag bei der Mühle gesehen. Doch Mutter sagte
aus, das Mädchen hätte nach mir das Haus verlassen und sie wisse nicht, wohin
sie gegangen war.
Das Mädchen war
und blieb verschwunden.
Ihm wird
plötzlich kalt und er zieht eine Jacke über, was aber auch nicht viel hilft.
Er schiebt dann abends die Gedanken an Frieda und dem Gerede von Anna beiseite
und beschließt nach einem bescheidenen Abendmahl, dass er sich mitgebracht hat,
schlafen zu gehen.
Er kann lange nicht einschlafen, Das Bildnis seiner Mutter verfolgt ihn, die
nasse Gestalt von Frieda, er wälzte sich herum. Sollte Mutter....... ? Es wird
im noch nachträglich ganz übel, wenn er daran denkt. Schreckliche Bilder und
kurze Albträume quälen ihn. Er spielt mit dem Gedanken, wieder aufzustehen,
hinunter zu gehen und doch in den Brunnenschacht zu schauen. Doch dann
nimmt er sich vor, dies erst morgen früh zu machen und ihn dann endgültig zu
vernageln.
Als er dann doch in einen Dämmerschlaf fällt, spürt er plötzlich, dass sich das
Mühlenrad zu bewegen beginnt. Man hört und spürt das immer im ganzen Haus.
Früher war es ein beruhigendes Geräusch für ihn, heute reißt es ihm aus dem
ohnehin sehr leichten Schlaf und er setzt sich ruckartig im Bett auf.
Wer hat das Rad in Bewegung gesetzt? Er war sich sicher, es war Anna, sie will
ihn scheinbar erschrecken.
Er steht auf und läuft die Treppe hinunter. Durch die heftigen Erschütterungen
beim Laufen brechen zwei der Bretter und er wäre fast mit einem Fuß in der
entstandenen Öffnung stecken geblieben.
Der untere Wohnraum ist schwach erleuchtet, gelblichgrüne Schwaden ziehen am
Fußboden entlang und die Bretter beim Brunnen in der Ecke waren verschoben. Er
will hingehen und nachschauen, doch plötzlich erklingt helles Lachen von
draußen.
„Komm doch, schau wie das Rad sich dreht! Wir werfen wieder Steinchen!“
Es wird ihm kalt. Eiskalte Schauer laufen über seinen Rücken und die Härchen in
seinem Nacken stellen sich auf.
Es ist die Stimme von Frieda, oder bildet er sich das nur ein?
Er läuft vor das Haus, und tatsächlich dreht sich das Rad. Es sind einige
Schaufeln im Laufe der Zeit vermodert und abgebrochen, einige sind noch intakt.
Über das Rad gelehnt, riesengroß erscheinend, mit einem wehenden grünlichen
Schleier bedeckt räkelt sich Frieda. Ihre Haare flattern leicht im Nachtwind,
ihre Arme sind durchscheinend und dünn, ihre Augen jedoch sind so groß wie
Handteller und glühend. Ihre Beine scheinen mit dem Wasser des Baches verbunden
zu sein und auch die Schleier vermischen sich mit dem in der Nacht dunkelgrün
wirkenden Bach. Über ihren fast durchsichtigen Körper rieseln Wassertropfen.
„Frieda!“, stammelt er und streckt seinen Arm nach ihr aus.
„Ja, Peter, komm.....!. Komm mit auf das Rad, wir drehen uns, ich zeig Dir die
Wasserwelt!“
Er spürt wie von ihr ein seltsames Ziehen und magnetische Kräfte ausgehen, er
fühlt sich gezogen und klammert sich erschrocken an den Türstock.
„Ja, klammere Dich nur dort an, so wie ich mich angeklammert habe, als sie mich
gestoßen hat, in das große finstere Loch!“ Sie reißt den Mund auf, er wird
riesengroß und es schien ihm, als ob ein grüner, giftiger Hauch herauskäme.
Sie lässt das Rad los und schwebt nun über den Bach. Ihre Beine sind noch immer
mit dem dunklen Wasser verbunden und es scheint, als würde sie in den Bach
rinnen und sich mit dem Wasser vereinigen.
Er weicht
zurück.
„Ich ..... ich habe das nicht gewusst!“
„Oh, ich habe
gerufen, habe geschrieen! Keiner kam, um mir zu helfen, auch Du nicht. Nun
wirst auch Du genauso sterben!“
Er taumelt in das Haus und schließt die Türe hinter sich.
„Das nützt Dir gar nichts, ich bin hier!“
Die grünlichen Schleier kommen ungehindert unter dem Türspalt durch und richten
sich vor ihm wieder auf und formieren sich zu einer konturlosen, durchsichtigen
Gestalt, die sich nun im Raum rasch hin und her bewegt und um ihn herumtanzt.
Er dreht mit herum und folgt ihr mit den Augen, bis er spürt, dass es ihm
schwindelt.
„Jede Nacht bin ich Deiner Mutter erschienen, habe sie geweckt, habe sie tanzen
lassen, wie Dich nun! Ich habe so lange gepocht und geschrieen, bis sie die
Truhe entfernt hat und die Bretter weggeschoben hat!“ Sie lacht grausam. „dann
ist sie mich nie wieder losgeworden! Als sie eines nachts schreiend weglief,
geradewegs in den Fluss und in den Fluten verschwand, stand ich am Ufer und
blickte ihr befriedigt nach.
Das Wasser
ist nun mein Element, es wird auch das Deine sein und jeder, der dieses Haus
bewohnt wird dazu verflucht sein, mit uns jede Nacht zu tanzen!“
Sein Körper dreht sich nun ebenfalls im Kreise, wird von dem sich rundum
bewegendem schleierartigen Nebel völlig eingeschlossen.
Er spürt, wie sich sein Körper aufzulösen beginnt, wie er sich fast mit diesem
Wesen verbindet und körperlos wird. Sein hilfloser Körper wird durch die
fehlende Brunnenabdeckung hinab in den dunklen Schacht gezogen.
Gleich am nächsten Tag wird der Körper des Mannes auf dem Grunde des Brunnens
entdeckt. Er musste in der Nacht hinuntergestürzt sein und sich das Genick
gebrochen haben, war die einhellige Meinung.
„Ich verstehe das nicht“, sagt Anna zu den Polizisten, „er hat hier seine
Kindheit verbracht, er wusste doch, dass da ein tiefer Brunnen ist! Und im
Pyjama war er auch, also mitten in der Nacht muss das passiert sein!“ Sie zieht
die Mundwinkel nach unten.
„Vor allem, warum war der Brunnen nicht besser gesichert?“ Der Polizist
schüttelt den Kopf.
„Das war wegen Frieda!“, sagt Anna und geht weg.
Noch im Gehen flüstert sie:
„Sie hat ihn und
die Alte geholt!“
„Kennst Du eine Frieda?“, fragt der Polizist seinen Kollegen.
DIE
FRAU VOM RIFF
Vom Boot ausgesehen,
lag das Haus hoch oben am Fels, einem Adlerhorst gleich. Man konnte meinen, es
balancierte auf der Spitze des Felsens und der kleinste Windstoß könnte es
herabwehen.
Weiter draußen, in
Richtung offenes Meer, schlugen die Wellen ans Riff und weiße Gischt schäumte
auf. Es war wie eine Barriere, davor würde sein kleines Boot erbarmungslos
daran zerschellen.
Er saß im Boot und
blickte schon eine ganze Weile nach oben. Sina, die Labradorhündin saß dort am
Rande der ins Meer ragenden Terrasse und beobachtete ihn. Immer, wenn er die
Hand hob, stand sie auf und er konnte sehen, wie sie den Schwanz hin und her bewegte.
Sina hasste Salzwasser und blieb daher, wenn er mit dem Boot hinausfuhr immer
an Land,
Das Ruder tauchte in
das klare Wasser ein und erzeugte ein sanftes Kräuseln der Wellen. Er ließ sich
treiben, wie jeden Tag um diese Zeit zwischen Tageslicht und Dämmerung.
Er nahm sich vor, das
in Arbeit befindliche Bild morgen endlich fertig zu stellen. Eigentlich war es
ja schon seit Tagen fertig, doch es gab immer wieder jenen und diesen
Pinselstrich um es zu vervollkommnen.
Doch konnte er das
nur in den Vormittagsstunden, wenn die Sonne schräg am Himmel stand und das
Licht hell und fluoreszierend war.
Sein Blick tauchte
gedankenverloren in die sanft an die Planken des Bootes schlagenden Wellen, bis
auf den Meeresboden zu den Spuren im Sand, die die kleinen Krebse auf ihren
Wanderungen dort hinterließen.
Da war plötzlich das
Gesicht dieses Mädchens wieder. Es lag an der Wasseroberfläche, als wäre sie
ein Spiegel. Es war ein schönes, ebenmäßiges Gesicht.
Ganz am Anfang, als
es ihm nur hin und wieder erschien, drehte er sich im Glauben, sie stünde
hinter ihm, um. Doch dem war nicht so.
Das blonde Haar wurde
von den Wellen auf und ab bewegt und umschloss ihr Gesicht wie ein
Bilderrahmen. Die Augen waren halb geöffnet und sahen ihn fragend an. Ihre
Lippen öffneten sich, als wollten sie ihm etwas sagen, Was er jedoch nicht
verstehen konnte.
Er vermied immer das
Ruder zu bewegen um das Bild nicht zu zerstören. Sie schien seinen Blick
festzuhalten und ehe er es sich versah, war er des Öfteren schon viel zu weit
hinausgetrieben worden. Um wieder zurück zu kehren, musste er dann doch das
Ruder mit voller Kraft einsetzen und das Boot wenden. Das Bildnis war dann
jedes Mal verschwunden.
Er redete sich dann
ein, dass es nur Einbildung war und versuchte das Geschehen zu verdrängen.
Doch dieses Gesicht
drängte sich sogar in seine Träume. Es lockte ihn aufs Meer hinaus und er
folgte ihm willenlos und fand sich in manchen Nächten tief unten am
Meeresboden, von sich bewegenden Schlingpflanzen umgeben, kämpfend mit
Blätterranken, die ihn festzuhalten schienen. Er konnte sich nur unter
allergrößter Anstrengung freimachen. Es gab da Muränen, die aus dunklen Höhlen
der Felsen hervorschossen, die kleinen runden Augen gefährlich auf ihn
gerichtet und das Maul mit den starken Zähnen zum Biss weit geöffnet. Und immer war das Gesicht vor ihm, das ihn lautlos
lockte und rief.
Er ruderte zurück, vertäute
das Boot am Steg und ging langsam, immer wieder nach rückwärts aufs Meer hinausblickend,
zu dem Haus hinauf. Sina kam ihm auf halbem Wege entgegen und zusammen gingen
sie ins Haus.
Die Nacht kam fast
unvermittelt, die Sonne versank blutrot in den Fluten und die Dunkelheit hüllte
ihn nun ein. Die Lampe rückwärts im Raum spendete gedämpftes fast
orangefarbenes Licht und die Schatten der Möbel im Raum tanzten im Licht des
flackernden Feuers im Kamin. Er versank in dem tiefen Lehnsessel davor,
streckte seine Beine aus und führte das Glas an den Mund. Der Duft des alten
Kognaks stieg ihm in die Nase und seine Hand versank im Fell von Sina, der
neben ihm liegenden, zufrieden knurrenden Labradorhündin.
Das flackernde Feuer
fesselte seinen Blick und die züngelnden Flammen erinnerten ihn wieder an das
im Wasser schwebende helle Haar rund um das Mädchenbildnis.
In dieser Nacht ließ
ihn der Gedanke daran nicht mehr los und bereits am frühen Morgen stand er auf
seiner Terrasse und begann mit einigen flüchtigen Pinselstrichen dieses
Mädchengesicht aus dem Gedächtnis zu skizzieren. Vergessen war der Vorsatz, das
andere Bild fertig zustellen, die letzten Pinselstrichen zu machen. Es lehnte
vergessen an der Wand.
Zwischendurch schloss er immer wieder seine Augen, um sich das Bildnis
in Erinnerung zu rufen und versuchte es dann auf die Leinwand zu bringen. Er
arbeitete wie besessen und vergaß darüber Zeit und Raum völlig.
Erst Sina erinnerte ihn daran, dass es Zeit war etwas zu essen. Lustlos
bereitete er für sich und Sina einen kleinen Imbiss zu und setzte sich dann
gegenüber der Staffel, um die Zeichnung prüfend anzusehen.
Sina schien nicht zu gefallen was sie sah, sie knurrte leise.
Auch er war mit dem halbfertigen Bild, eigentlich mehr eine Skizze,
unzufrieden. Die Zeichnung wirkte flach und unwirklich, es fehlte ihr jenes
gewisse Flair, welches das Bildnis im Wasser hatte. Es fehlte ihm an Leben. Die
Augen waren seelenlos, der Mund formte keine Laute.
Er musste wieder hinaus, er musste versuchen, das Bildnis wieder zu
finden, schwebend an der Oberfläche der Wellen. Musste in ihre Augen tauchen,
hören was sie ihm zu sagen hatte.
Die Ruder tauchten regelmäßig und kraftvoll in das klare Wasser und
seine Blicke streiften suchend über die Oberfläche. Die Sonne lag über dem
Wasser und schickte Sonnenkringel in die Tiefe.
Einige Meter vor ihm sah er dann plötzlich die goldene Mähne des
Mädchens auf und abtauchen. Er versuchte ihr näher zu kommen, ruderte schneller
und angestrengter. Doch der Abstand verringerte sich in keiner Weise.
Die Hündin Sina, hoch oben auf der Terrasse hatte sich aufgerichtet und
ihr Blick erfasste das Boot, welches sich immer weiter entfernte. Sie lief
nervös hin und her und versucht durch Bellen auf sich aufmerksam zu machen.
Er ruderte noch immer hinter seinem Traum her, versuchte die Worte zu
verstehen, die sie flüsterte, doch er kam ihr niemals nahe genug.
Ihre goldenen Haare schienen sich im Ruder zu verfangen, ihr Gesicht
tauchte weg und kam auf der anderen Seite des Bootes herauf. Ihre Augen
blickten ihn groß und fragend an.
Er hatte längst jedes Maß verloren, entfernte sich immer mehr vom Land
und das Haus am Felsen wurde immer kleiner, doch er beachtete es kaum. Er
wollte ihr Gesicht aus der Nähe sehen, hören was sie sagte.
Und wenn er selbst hinabtauchen würde, mit ihr gemeinsam ein Stück
schwimmen würde?
Er zog die Ruder ein und legte sie neben sich, richtete sich auf um
über den Rand zu springen, hinenzutauchen in die aufgewühlten Fluten
Er bemerkte nicht die gefährliche Nähe des Riffs, merkte nicht die
tödliche Gefahr.
Sina war längsseits aufgetaucht, sie hatte ihre Abscheu dem Wasser
gegenüber überwunden, schwamm um ihr und um sein Leben. Sie bellte laut und
fordernd.
Doch er konnte sie nicht mehr hören. Er war hineingetaucht in die
Wellen, das Boot rammte krachend den Felsen, eine der Planken traf seinen Kopf,
seinen Körper, die Brandung verschluckte ihn und trieb ihn zwischen den Felsen
in das offene Meer. Das Sonnenlicht legte goldene Lichter über die
Schaumkronen, sie tanzten wie eine goldene Mähne hin und her.
Möwen zogen ihre Kreise und ihr lautes Schreien vermischte sich mit den
Geräuschen rundherum.
Sina hatte sich auf einen der Felsen gerettet, schüttelte ihr Fell und
warf traurige, verzweifelte Blicke hinaus auf das Meer. Sie war zu spät
gekommen.
Sie wurde am nächsten Morgen von Fischern mitgenommen, die vorbeifuhren.
Sie sahen die zerschellten Reste des Bootes und nickten wissend.
„Wahrscheinlich hat ihn die Frau aus dem Riff geholt! Sie hat wieder
ein Opfer gefunden!“
ENDLICH
VEREINT
Die kleine alte Dame
trippelt langsam den Weg zum Bahnhof. Vorbei an den Geschäften mit den bunten
Auslagen, vor denen Leute stehen und abwägende Blicke auf die angebotenen Waren
werfen. Sie hat kein Auge dafür. Mit ihrer kleinen Rente kann sie sich ja all
diese Dinge sowieso nicht kaufen. Sie muss froh sein, wenn es sich für das
Nötigste ausgeht und sie außerdem noch ein wenig auf die Seite legen kann für
ihr Begräbnis, wie sie allen erzählt.
Aus einem Lokal am
Hauptplatz kommt eine Gruppe junger übermütiger Menschen heraus und sie fühlt
sich gezwungen vom Gehsteig herabzusteigen um auszuweichen. Nach einigen
Schritten bleibt sie stehen und hält sich an einem Hydranten fest, um etwas
Luft zu holen und durchzuatmen.
So verweilt sie
einige Minuten, ihre Handtasche fest an sich gepresst und lächelt. Ihre
Gedanken gehen viele Jahre zurück, in ihre Jugendzeit.
Ach, was waren sie da
auch für lustige Menschen, mit vielen Freunden und noch voller Hoffnung. Sie
konnte die Straße hinunterlaufen, ohne anzuhalten und dabei auch noch lachen.
Heute schien ihr das wie aus einer fernen Zeit, unwirklich und verschwommen. So
stand sie da und lauschte in sich hinein, in die Vergangenheit.
Lautes Hupen lässt
sie erschrocken zusammenfahren. Oh Gott, sie stand fast auf der Straße und ein
Wagen wollte eben dort parken. Mit einem verlegenen Lächeln in Richtung des
ungeduldigen Lenkers drehte sie sich um und stieg wieder auf den Gehsteig
hinauf. Sie streifte den Rock mit ihren schlanken, vom Alter gezeichneten
Händen mehrmals glatt, was sie immer tat, wenn sie verlegen war und ging
unbeirrt Richtung Bahnhof weiter.
Sie würde den Weg
zum Bahnhof auch mit geschlossenen Augen finden. Sie ging ihn nun schon seit
Jahren täglich. Sie kannte fast alle Fahrgäste die regelmäßig wegfuhren, bzw.
ankamen. Sie saß dort immer am frühen Nachmittag auf derselben Bank, fast am
Ende des lang gestreckten Bahnhofsgebäudes, wo sie niemand störte und erwartete
die herankommenden Züge und winkte den abfahrenden Zügen nach.
Sie war allen, den
Fahrgästen ebenso, wie dem Bahnpersonal bekannt. Manche grüßten sie sogar. Das
freute sie besonders. Wenn sie dann abends in ihrem Bett lag und das Licht
auslöschte, ließ sie den Nachmittag vorbeiziehen und wusste ganz genau, wer sie
heute bemerkt hatte und wer nicht. Sie dachte sich Geschichten über die
Schicksale der Ankommenden und Abreisenden aus und registrierte jede
Veränderung an ihnen; sei es an der Kleidung, oder im Gemüt. Sie sah ihnen ins
Gesicht und spürte sofort, wenn Jemand Sorgen hatte.
Manchmal setzte
sich der Bahnhofsvorstand ein Weilchen zu ihr und fragte sie, wie es ihr geht.
Er kennt sie gut, sie ist die Witwe eines seiner ehemaligen Vorgesetzten. Vor
vielen Jahren hatte dieser hier gearbeitet und sie holte ihn damals öfters von
der Arbeit ab. Dann ging er in Pension und er hörte einige Jahre nichts mehr
von ihm.
Bis sie plötzlich
auftauchte, sich auf diese Bank setzte und den Zügen nachsah. Sie erzählte ihm
anfangs vom Tod ihres Mannes. Eines Tages sprach sie darüber nicht mehr und
erweckte den Eindruck, als wollte sie ihren Mann abholen und warte hier nur auf
ihn. Sie hatte Bilder dabei und zeigte sie jeden, der mit ihr sprach. Doch mit
der Zeit wollte sich keiner mehr die Bilder anschauen, die Menschen gingen
rasch vorbei und lächelten nur. Dann betrachtete sie die Bilder alleine und
lächelte dabei still vor sich hin, bis sie sie wieder in ihre kleine Tasche
einsteckte.
Heute jedoch
erwartete sie eine Überraschung. Ihre Bank war besetzt. Sie verlangsamte den
Schritt und näherte sich zögernd. Es war ein Bahnbediensteter in voller
Uniform, so wie sie ihr Mann immer getragen hatte. Sie grüßte leise und setzte
sich an das andere Ende der Bank. Eine Weile saßen sie stumm neben einander.
„Der Zug aus
St.Pölten kommt heute zu spät, er sollte schon da sein“, sagte sie und lächelte
den Mann schüchtern an.
Sie glaubte ein
kleines Nicken gesehen zu haben und blickte wieder geradeaus. So saßen sie
wieder stumm nebeneinander, bis der Zug aus St.Pölten einfuhr. Einige Fahrgäste
stiegen aus, andere ein. Rasch leerte sich der Bahnsteig wieder und es trat
wieder Ruhe ein, nur durch Weinen eines kleinen Kindes unterbrochen.
Sie rückte näher
an ihn heran. Er bemerkte es kaum. Sie blickte zu ihm auf. Das einfallende
Sonnenlicht blendete sie und sie glaubte in den Zügen des Fremden, ihren Mann
wieder zu erkennen.
So lange hatte sie
gewartet, dass er wiederkam und nun war es soweit.
„Wir werden
zusammen nach Hause gehen, ich werde Kaffee kochen und es ist wieder wie
früher.“
Sie rückte noch
näher und schob ihren Arm unter den seinen. So saßen sie eine Weile schweigend
nebeneinander. Mit der freien Hand holte sie die Bilder aus ihrer Tasche und
schob sie in seine Hand.
„Erinnerst du
dich?“, Fragte sie.
Sie glaubte wieder
dieses Nicken zu bemerken, legte ihren Kopf an seine Schulter und schloss die
Augen. Ein glückliches Lächeln legte sich über ihr Gesicht, sie spürte seine
Kraft und schmiegte sich noch näher an ihn.
Der
Bahnhofsvorstand stand am Ende des Perrons und sprach mit dem jungen Mann, der
die Aktion leitete. Sie hatten am ganzen Bahnhof lebensgroße Puppen in Uniform
aufgestellt und die Reaktionen der Reisenden beobachtet. Im Gespräch bewegten
sich die beiden Männer langsam in die Richtung der besetzten Bank.
Die alte Dame
schien zu schlafen.
Der Vorstand
neigte sich zu ihr hinunter um sie zu wecken. Er rüttelte sie an der Schulter,
doch sie rutschte ganz langsam nach unten und zog gleichzeitig ihren Arm unter
dem der Puppe hervor. Die Bilder aus der Hand der Puppe fielen ebenfalls zu
Boden und lagen nun verstreut zu ihren Füßen.
„Mein Gott“,
entfuhr es ihm, er sah sofort, dass sie tot war. Das glückliche Lächeln auf
ihrem Gesicht berührte ihn, er richtete sie wieder auf und lehnte sie wieder an
die Puppe an. Dann erst griff er zum Telefon.
Eine endlose Demütigung
Klage eines Buches!
Mich kann jeder besitzen, betasten, mein Kleid, meine äußere Hülle öffnen,
irgendwo mit den Fingern in mir suchend wühlen, mich im Griff haben.
Man öffnet mein
intimstes Inneres, versucht meine Gedanken zu verstehen, legt mich aber auch
lustlos wieder weg.
Meine Sehnsucht,
jemand zu gehören, von ihm verstanden zu werden, macht mich unterwürfig. Ich
breite mich aus, gewähre Einblick in alle Höhen und Tiefen. Ich habe gar keine
andere Wahl, als alles offen zu darzulegen.
Es gibt keine Blätter
die mich bedecken können, nein, die einzelnen Blätter entblößen mich. Man kann
sie sogar knicken, bekritzeln, falten und aus mir herausreißen,
Wenn sich gierige
Augen an mir festkrallen, jedes Wort von mir analysieren, in Besitz nehmen und
wieder vergessen, wünschte ich, dass sich meine Worte in giftige Pfeile
verwandeln mögen um sich zu rächen.
Jeder der mich kauft,
kann mich mitnehmen, als sein Eigentum betrachten. Das verletzt mich manchmal,
schließlich habe ich ja auch meinen Stolz, will als eigenständiges Wesen
betrachtet werden, obwohl es so viele von uns gibt.
Wesen wie wir, ja Wesen,
mit Geist, Witz, uraltem Wissen und unendlicher Geduld, dienen der Menschheit
schon seit Jahrhunderten!
Wir wurden nicht
immer nur von reinen Geistern geschaffen, es gibt nicht nur edles Gedankengut
in uns, denn wir widerspiegeln ja schließlich die Seelen der Menschen.
Man hat uns
gebraucht, missbraucht und unsere Aussagen verdreht und vergewaltigt.
Und doch haben Viele
wunderbare Nächte mit uns verbracht, voller Glut und Abenteuer, Erkenntnisse
gewonnen aber auch ihren Glauben an die Menschheit verloren.
Wir können Massen in
Bewegung setzen, sie aber auch im Bann halten.
Schmutzige Gedanken
und schmutzige Hände hinterlassen ihre Spuren an mir und an meiner Seele. Viele
verstehen mich einfach nicht, lassen mich immer wieder von vorne erzählen, in
endlosen Wiederholungen und sind trotzdem nachher nicht klüger.
Wir sind die Erzähler
der Geschichte, die Träger der Vergangenheit und die Herolde, die Neues
verkünden. Wir erzählen von Leid und Lust, Freude und Trauer.
Wir sind Buch.
GEDANKEN
UND PHILOSOPHIE
Abende wie Porzellan
Wer kennt sie nicht,
diese beginnende Dämmerung; es ist noch Tag, der Abend jedoch kündigt sich
schon an.
Mir erscheint dann alles in einem durchscheinenden Licht, teurem Porzellan
gleich. Wenn man dann auch noch das Glück hat, von einer Terrasse über das Meer
bis zum Horizont blicken zu können, kann man das zarte Rosa der hinter den
Wolken versinkenden Sonne in sich aufnehmen und träumen.
An den Rändern der Wolken setzt sich diese zarte Farbe ab und wenn man es will,
verheißt sie Zartheit, Stille und Bereitschaft seinen Gefühlen Platz geben zu
dürfen.
Es sind nur einige Momente, vielleicht Minuten die bei halb geschlossenen Augen
auch zu Stunden werden können, in denen wir uns diesen Eindrücken hingeben.
Natürlich fühlen das nicht alle Menschen. Jedes Geschöpf ist für andere
Stimmungen empfänglich, geprägt vom Leben und von Erlebnissen.
Mancher wird in diesen Momenten aufstehen und Licht machen, da er weiß, dass es
in Kürze zu dunkel wird, um seine Tätigkeit fortzusetzen. Andere wieder lassen
die Arme in den Schoß fallen und genießen bewusst diese wenigen Augenblicke.
Es ist schön, dass die Tage nicht abrupt enden und sofort in die Nacht
übergehen. Es ist als wollte der Tag noch einmal Atem holen um dann mit einem
Seufzer die Augen zu schließen.
Uns erschreckt jeder unmittelbare Übergang vom Licht ins Dunkel, oder
umgekehrt. Wenn wir plötzlich ins Dunkel treten, weiten sich unsere Pupillen
und wir versuchen unbedingt den Raum zu erforschen, das Unbekannte soll uns
nicht überraschen. Wir horchen hinein, aktivieren alle unsere Sinne.
Wenn wir jedoch vom
Dunkel ins Licht treten, zieht sich die Pupille zusammen, wir kneifen die Augen
ein wenig zu um nicht geblendet zu werden. Doch fühlen wir uns unvergleichbar
wohler, wenn wir unsere Umgebung erkennen können.
Die Dämmerung vermittelt uns deshalb angenehmere Gefühle.
So meint es eben die Natur gut mit uns und lässt die Nacht nur langsam über uns
zusammenschlagen.
Das Geheimnis des Waldes.
Zur Einleitung ein
Gedicht, das mir in den Sinn kam und das ich niederschrieb als ich eine Eiche suchte,
die ich in einem Waldstück wähnte und nicht mehr fand.
Die Eiche
Meine Gedanken, sie
forschen und suchen
Sie dringen ein in
den dunklen Wald
Sie finden Tannen,
Fichten und Buchen.
Sie erkennen mit
wehem Gefühl jedoch bald,
Die Eiche die sie
suchen, sie finden sie nicht.
Sie ist gefällt, auch
wenn es schmerzt,
Die Erinnerung im
Herzen, dunkel, ohne Licht.
Erinnerung an ihren
starken Stamm, ausgemerzt.
Dru, in der Sprache
der Kelten hieß EICHE“. Das kurze Wort id, stand für Weisheit. Druiden waren
Priester, Gesetzgeber und Heiler, auch Wissende.
Im Hintergrund von
Herrschern und Mächtigen, besaßen sie die eigentliche Macht, die sie
hoffentlich zum Wohle der Menschen benutzten.
Sie kannten die
Geheimnisse der Heilkraft der Natur, glaubten an die jenseitige Welt und
stellten Verbindungen her zwischen den Menschen und dem Jenseits und ihrer
Geisterwelt.
All diese Gedanken
überfallen mich jedes Mal, wenn ich einen Wald eintauche, wenn ich mich von den
Gerüchen und Geräuschen dieser geheimnisvollen Welt gefangen nehmen lasse.
Ist es möglich, dass
es heute noch Druiden gibt, dass sie heute noch im Hintergrund wirken? Und wo
würden sie denn wohnen oder soll man sagen hausen?
Gerne würde ich
einmal einem Druiden begegnen, würde gerne erfahren wie die Geister aus dem
Jenseits oder auch aus dem Diesseits auf unsere Leben einwirken, ob sie es
überhaupt tun.
Oder gehört dies
alles in die Welt der Sagen, der Glaubensverirrungen?
Man kann natürlich
dran zweifeln. Aber wenn ich einen Wald betrete, dann kommt sie immer, diese
Neugier. Durch das einfallende Sonnenlicht, leichte Bewegung der Blätter durch
Windböen werden geheimnisvolle Bilder auf den Boden des Waldes gezaubert.
Schatten bewegen sich und man weiß nie, ob nicht hinter den Bäumen Gestalten
von Baum zu Baum gleiten.
Die Zweige der Bäume
bewegen sich. Berühren sie sich? Flüstern sie sich etwas zu, winken sie uns zu
sich, oder wollen sie uns fernhalten?
Wenn man nun einen
Stamm umarmt, sich an ihn presst, kann man spüren, dass er lebt? Ich glaube
schon.
Durch das Herabfallen
der Blätter und dem Moos, das die Erde bedeckt wird der Schritt gedämpft, das
gelegentliche Knacken der zerbrechenden Äste lässt mich innehalten. Es ist
nicht immer definierbar aus welcher Richtung eben diese Geräusche gerade kommen.
Könnte also auch hinter mir sein oder aus der Tiefe des Waldes kommen.
Dieses Erlebnis kann
ich nur in dichten, dunkleren Wäldern haben, nicht in einem Olivenhain, wo die
Bäume weit auseinander stehen. Hier ist jeder Baum für sich König, hat viel zu
erzählen. Hier können sich keine geheimnisvollen Wesen verstecken. Da ist der
Baum individuell ein Geheimnis, eine Legende.
Des Tages Farben
Waren die letzten
Tage bisher eher in langsam aufsteigenden Farbtönen gegliedert, schien der Tage
heute sofort in gleißendem Licht.............
Es gibt blaue Tage,
das sind jene Tage an denen nichts besonders zu erwarten ist. Sie beginnen
hellblau, man kann in Ruhe frühstücken und dann einige Dinge, die liegen
geblieben sind erledigen. Der Nachmittag wird dann in ein schönes sattes Blau
übergehen, bis der Abend kommt, der sich in ein samtblaues Blau verwandelt und
bei einem schönen Buch ausklingen kann.
Dann gibt es gelbe
Tage, die erfordern ein wenig unsere Aufmerksamkeit, da wir Termine eingetragen
haben, mit dem Auto unterwegs sind oder Freunde treffen. Das anfängliche helle
Gelb des Morgens geht über in ein schönes Sonnengelb in den Nachmittag hinein
und, wer weiß, es endet vielleicht in einem viel versprechenden gelborange bis
in den Abend mit angenehmer Gesellschaft.
Die grünen Tage sind
jene Tage, an denen wir mit viel Elan und Schwung bereits am Morgen beginnen.
Wir erwarten uns Ergebnisse, Erfolge und befriedigende Erlebnisse. Bis um die
Mittagszeit herum wird der Tag ein sattes Grün haben und nachmittags in ein beruhigendes
dunkelgrün übergehen, das bis in den Abend anhält.
Rote Tage sind schwierige Tage. Sie beginnen
schon am Morgen mit einem kirschrot, nachdem
man die Termine
durchforstet und
erforderlichen Erledigungen vormerkt. Das kirschrot wird sich gegen Mittag
aufgrund von schwierigen Gesprächen und Ärger in ein Tiefrot verwandelt. Der Nachmittag
spielt sich dann in dunkelroten verärgerten Rückblicken ab und kann auch bis in
die späten Abendstunden in keiner Weise verbessert werden.
Und dann gibt es
Tage im gleißenden goldenen Licht! Man öffnet die Augen und sofort überflutet
goldenes Licht den Raum, die Erinnerung an den vergangenen Abend ist
schlagartig wieder da! Sie heben uns empor, lassen uns schweben. Was war es
nur? Waren es irgendwelche banalen Worte, die gesprochen wurden, war es ein
Gefühl? Es ist manchmal nicht genau zu definieren. Es ist nur ein Leuchten, ein
leises Klingen von Innen präsent und hört nicht mehr auf. Das Licht setzt sich
fort in den Augen, sie leuchten und haben kleine silberne Sterne am Rande der
Iris. Die Augenbrauen sind ein wenig erhoben. Ein kleines Lächeln hält sich
hartnäckig den ganzen Tag.
Wie sollte man es
benennen, dieses Gefühl? Besser gar nicht, sonst verliert es den Zauber, man
sollte es nur genießen.
Die Gefühle
Ist ein Gefühl etwas,
was man angreifen kann?
Nüchterne Menschen
werden nein sagen. Doch wenn ein Gefühl einmal da ist, kann man es spüren, es
füllt einen aus und kann größer, kleiner, heftiger, drängender oder erhebend
sein.
Mancher wünscht sich
es sollte etwas Kompaktes sein, etwas was man auch angreifen könnte,
Ist das Gefühl nur in
unserem Inneren, oder umgibt es uns, hüllt uns ein, ja beherrscht uns?
„Ich habe da so ein
Gefühl...“ sagt man manch Mal. Wo haben wir es, dieses Gefühl?
Ich fühle dich.
Ich vermisse dieses
Gefühl
Mein Gefühl sagt
mir..
Meine Gefühle für
dich sind übermächtig.
.............
Man könnte da noch
eine Menge anführen! Und doch kann es niemand angreifen, man kann es auch nicht
festhalten. Es ist entweder da oder nicht.
Es wäre doch schön,
wenn man Gefühle in der Hand halten, sie festhalten, drehen und wenden könnte.
Es stellt sich auch
die Frage, ob ein Gefühl ein komplexes Ganzes ist, oder ob es eben lauter
Einzelgefühle sind? Wenn man sie eben anfassen könnte, dann wäre es möglich,
welche zu behalten, andere wieder weg zu legen und nur bei Bedarf, oder wenn
wir es uns wünschen, hervorzuholen.
Gefühle sind auch
schwierig einzuordnen. Es gibt positive Gefühle, aber auch negative uns
gleichgültig lassende, ja vielleicht sogar ängstigende.
Auf jeden Fall sind Gefühle
unberechenbar. Man kann sie selten selbst beeinflussen, sie entwickeln oft ein
Eigenleben. Erschreckend ist die Tatsache, dass sie jedoch von äußeren
Einwirkungen sehr wohl beeinflusst werden können.
Und so nehmen eben
die verschiedensten Gefühle großen Raum in unserem Leben ein und lassen uns oft
auch ein wenig taumeln, weil sie uns hin und her werfen und rationales Denken
dadurch oft ausgeschaltet ist.
So schön es wäre,
unsere Gefühle in der Hand zu halten, als etwas Reales behandeln zu können, sie
sind selbständig und von uns selbst nicht wirklich beeinflussbar.
Dunkle Nächte
Ich weiß nicht, ob
sie andere Menschen auch sehen. Aber ich sehe in manchen dunklen Nächten hinter
all den Sternen zwei große Augen, die mich unentwegt anstarren.
Sie starren mich an,
ohne eine Emotion auszudrücken, nur forschend, fast spöttisch.
So als wollten sie
sagen, was bist du doch für ein kleiner Punkt dort unten, unter all diesen
anderen unbedeutenden Punkten, die durcheinanderlaufen, auseinanderstreben und
sich immer wieder in der Menge verlieren. Wenn du nicht vorhanden wärst, würde
Nichts aber schon gar Nichts anders sein. Im Ganzen würde sich nichts
verändern. Irgendwann wird dein Punkt erlöschen und an seine Stelle tritt ein
anderer.
Ich drehe mich um und
nehme mir vor, diese Augen nicht zu beachten. Aber sie sind da und brennen auf
meinem Rücken ein Zeichen ein.
Wie wichtig sind mir
doch meine Wünsche, meine Empfindungen und wie unwichtig sind sie jedoch für
das Ganze. Sehen diese die Augen wirklich mich an, oder betrachten sie diese
homogene Masse, wie sie sich bewegt, auseinanderstrebt und wieder zentriert.
Hat es einen Sinn, aufzubegehren, lieber da oder dort zu stehen? Ist es so
wichtig, welche Farbe ich als kleiner Punkt in der Masse habe?
Wie groß bin ich
eigentlich? Rage ich heraus aus dieser Menge von verschiedenen Punkten oder
muss ich ein Zeichen setzen, um beachtet zu werden? Und wenn man von mir Notiz
nimmt, was verändert sich da im Großen?
Ich kann mich
anstrengen, aufglühen für den kurzen Moment meines Lebens, es wird nur ein
kleines Blinken sein, für einen kurzen Augenblick im Universum und auch
wiederum untergehen im Blinken vieler anderer Punkte.
Es sind, wie gesagt
dunkle Nächte, mit einer Stille, die in den Ohren dröhnt.
Ewiger Kreislauf
Das Meer ist ganz
ruhig, nur hin und wieder kräuseln sich kleine Wellen. Über allem liegt die
Stille des Mittags. Weit draußen schaukelt eine Möwe am Wasser, kaum erkennbar
in der Ferne. Das Sonnenlicht tanzt auf dem Wasser und hin und wieder springen
kleine silberne Fische in einem Bogen heraus und tauchen gleich wieder ein.
Sie liegt im Sand und
spürt jedes einzelne Sandkorn auf der Haut. Es ist ein wunderbares Gefühl, besonders,
wenn man sich leicht bewegt und der Sand jeder Bewegung nachgibt und Berührung
vortäuscht. Die Sonnenstrahlen erwärmen den Körper und jede leichte Brise
erinnert an einen Atemhauch. Längst verklungen, fast vergessen.
Die kleinen Wellen schlagen an den Strand und es klingt wie ein Flüstern, wie
Erzählungen über neu Erlebtes, Vergessenes, ewiges Dahin fließen, sich auflösen
und wieder neu formen.
In einem Moment fühlte sie sich wie eines dieser Sandkörner im ewigen Kreislauf
gefangen, hilflos hin und her getrieben von den Wellen, im nächsten Moment wie
das Leben selbst, überlegen den stumm sich fügenden Elementen. Voller
Willenskraft und Energie, imstande selbst zu entscheiden, ob getrieben oder
eigenständig handelnd.
Aufgeschreckt durch den Ruf einer Möwe hoch oben am Himmel wird sie wieder in
die Wirklichkeit zurückgeholt.