Betrachtungen über das rote
Kleid von Amelie
von Joana Angelides
Als er heute Morgen schlaftrunken
ins Bad ging, sah er es.
Es hing am Kleiderständer und
sprang ihn an wie eine Katze. Es war das neue rote Kleid von Amelie.
Bereits seit Tagen sprach sie
über nichts anderes. Sie erzählte ihm, wie das Rot zu ihren blonden Haaren
passe, wie der Kontrast das Auge blendet.
Er konnte immer nur milde
lächeln. Es war erstaunlich, wie begeistert sich Amelie über solche banalen
Dinge wie ein rotes Kleid äußern konnte.
Und dann erst die Passform! Sie
schilderte ihm, wie sich das Korsett des Oberteiles an ihren Busen schmiegt und
ihr trotzdem Bewegungsfreiheit gewährt.
Man wird die Brustspitzen sich
durch den Stoff abzeichnen sehen, das
ist sicher, fand er und es regte sich leise Eifersucht in ihm.
Er blieb gähnend vor dem roten
Kunstwerk stehen und betrachtete es missbilligend. Amelie wird d i e
Sensation beim Schachturnier sein. Er sah sie schon, wie sie an seinem
Arm den Turnierraum betreten wird und die Unterhaltung in der Folge in ein
leises Gemurmel übergehen werden.
Jeff, der alte Jugendfreund wird
mit seinen Augen die Konturen von Amelies unübertroffenen Körper abtasten und
dann an ihrem Ausschnitt hängen bleiben, wie er das immer tut.
Er wird sie beide begrüßen und
dabei ein wenig stottern. Eigentlich sollte er ihm irgendwann seine Faust auf
der Nase tanzen lassen. So unschuldig wie er immer tut, ist er sicher nicht. Und so ein rotes Kleid bringt ihn
sicher aus der Fassung.
Und Amelie wird diese
Situation genießen!
Das Korsett-Oberteil wird ganz
eng anliegen und die geschwungenen Hüften von Amelie so voll zur Geltung
bringen.
Er griff nach dem dünnen Stoff und hielt ihn ein wenig
in die Luft. Ja und der Schlitz hier links, der
sich fast bis zur Beuge des linken Beines öffnen wird, ist die Krönung
des Kunstwerkes! Ein sehr raffinierter Schlitz, den man nicht gleich sieht.
Amelie wird sich leicht schwingend die Treppe abwärts bewegen und dabei ein
leichtes Lächeln nach allen Seiten senden.
Oh, sie ist eine erfahrene Frau,
sie weiß, wie sie das Blut der Männer zum Rauschen bringen kann! Er wusste es
aus eigener Erfahrung.
Er ließ den Stoff wieder los und
drehte das Kleid um. Der Ausschnitt am Rücken war das Ausgeklügelte, das man
sich vorstellen kann. Er ging weit hinunter, eine Handbreit tiefer als ihre
Taille war. Wenn sie sich bewegen wird, wird man das kleine Grübchen am Beginn
ihrer kleinen, festen Pobacken gerade noch erahnen können. Die Frage nach dem
„Darunter“ wird im Raum stehen. Hat sie darunter noch was an, oder nicht?
Unerträglich!
Die Blicke der Männer, die ihnen
folgen werden, werden sicher ein Loch in seinen Anzug brennen.
Er gähnte leicht und fuhr sich
mit der Hand durchs Haar. Es war schon spät, er musste sich beeilen. Er ging ins
Badezimmer.
Ihre Haarbürste, die sie
nachlässiger Weise immer auf seiner
Seite ablegte, erinnerte ihn an ihr dichtes blondes Haar. Sie wird das Haar sicher wieder hochstecken, um ihren
wunderbaren Rücken darzubieten. Wozu hätte sie sonst so einen tiefen
Rückenausschnitt gewählt?
Er sah schon vor sich die kleinen
Löckchen, die sich immer im Nacken lösten, im Glanz der Beleuchtung wie
Engelshaar glänzten und ihn jedes Mal verrückt machten.
Man wird dann jeden Rückenwirbel
bis eben zu diesem Grübchen am Ansatz des Po´s verfolgen können. Vielleicht
könnte er in der Mittagspause ein Seidentuch finden, das farblich zum Kleid
passt, um den Rücken etwas abzudecken? Es wird sie vielleicht auch wärmen. Bei
diesen Schachturnieren zieht es sowieso immer.
Er verließ das Badezimmer, um
sich fertig anziehen.
Da hing es noch immer, das rote
Kleid von Amelie.
Er sah erst nun, dass der Saum
leicht gekräuselt war und sich
wahrscheinlich in leichten Wellen um ihre Waden bewegen wird. Der Saum könnte ruhig ein paar Zentimeter
länger sein; beim Sitzen, wird man ihre Knie sehen und mancher Mann wird sicher in Gedanken wünschen, er würde etwas
weiter hinaufrutschen.
Er befürchtete schon, das Turnier
nicht genießen zu können, da seine Aufmerksamkeit auf lüsterne Männerblicke
rund um ihren Tisch gerichtet sein wird.
Er nahm sich vor, sie zu bitten,
die Beine nicht übereinander zu schlagen. Jeff hatte ein schwaches Herz und
Marcus sein Sitznachbar hatte Asthma.
Auf der Fahrt ins Büro gab es
eine Menge roter Ampeln, die ihn jedes Mal an das rote Kleid von Amelie
erinnerten. Sie blinkten bedrohlich.
Der Tag war stressig und er
stellte fest, dass Rot eine Farbe war, die scheinbar das Leben beherrschte. Es
waren nicht nur die Aktenordner hinter seinem Rücken, die roten Sitzflächen der
Bürosessel, es waren vor allem die roten Lichter der Telefonanlage, die ihn
mehrmals am Tag anblinkten und fast um den Verstand brachten.
Er fand, dass Rot keine Farbe für
ein Kleid ist. Es wirkt aufdringlich, es hat Signalwirkung und es zieht alle
Blicke auf sich.
Als er Amelie am Abend von zu
Hause abholte und sie ins Auto stieg, sah er gar nicht zu ihr hin.
Er hatte Angst, dass das Rot
ihres Kleides seine Konzentration im
Verkehr beeinträchtigen würde.
Amelie übergab mit einem Lächeln
ihren Mantel der Garderobiere und streifte den Rock ihres dunkelblauen Kostüms
zu Recht.
Sie nahm entzückt den impulsiven
Kuss ihres Mannes auf ihrer Wange zur
Kenntnis und begrüßte anschließend herzlich Jeff, den besten Freund der
Familie.
Als die beiden Männer vor ihr,
vertieft in ein Gespräch, die Treppe
hinab schritten, dachte sie an ihr neues rotes Kleid. Sie wird es erst morgen Abend,
zum fünften Hochzeitstag beim kleinen Italiener um die Ecke, tragen. Sie wird
es nur für ihn tragen. Ob es IHM gefallen wird?
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