Das
Einhorn
Ein Märchen für Träumer
VON JOANA ANGELIDES
VON JOANA ANGELIDES
Der Zauberwald liegt im Licht des Mondes da.
Der See in der Mitte des Waldes spiegelt das Mondlicht und die Sterne
wider und fast unsichtbar, nur zu
erahnen, schweben durchsichtige milchige Schleier über den See und verlieren
sich im Wald.
Diese Nächte gehören den Kobolden, den
Waldgeistern und Druiden, die sich unter den hohen Tannen tummeln und ihre
Geheimnisse mit sich herumtragen. Sie tanzen über der Erde schwebend, sich
leicht wiegend, im Kreise und beschwören die Geister der Zwischenwelten. Sie
suchen den Kontakt zu diesen Geistern um die Geheimnisse der Welt weiter tragen
zu können, um die Erdkräfte nie versiegen zu lassen.
In Vollmondnächten versammeln sie sich auf
der großen Lichtung und umringen dort
herumstehende, leicht sich bewegenden Farne und geheimnisvolle Kräuter. Sie
sammeln diese dann und brauen in ihren unterirdischen Höhlen, oder in hohlen
Baumstämmen unbekannte Mixturen.
Je nach Bedarf werden diese Mixturen dann zur
Heilung verwendet, oder manches Mal um einen ausgesprochenen Zauber zu
unterstützen.
All dies geschieht im Verborgenen und nicht
viele Menschen haben das Glück, diese Geheimnisse zu erfahren.
Nur empfindsame Seelen, die nach dem Sinn des
Lebens suchen, oder verloren gegangene Gefühle wieder einfangen wollen, finden
manches Mal den Weg in diesen Zauberwald, und können diesem geheimnisvollen
Treiben zu sehen. Und nur jene Seelen, die sich öffnen für alle diese
Empfindungen werden den Weg finden.
Manches Mal, wenn sie zu stürmisch nach vorne
drängen, werden sie sich das fein gesponnene Gespinst, das die Seele umgibt, an
den nach ihr fassenden Ästen oder herausragenden Wurzeln beschädigen.
Mitten in diesen Wäldern können eben diese
Seelen manchmal das Einhorn sehen. Es
steht da, weiß wie Schnee, die Mähne schimmernd wie aus Silber farbenen Fäden
gewebt, bewegungslos, im nächsten Moment ist es
wieder verschwunden.
Meist können es nur die Menschen sehen, die
auch reinen Herzens sind und den Zauber der dunkelblauen Nächte, der silbernen
Tage und goldenen Abende in sich aufnehmen. Das Einhorn erscheint oft vor
unvorhergesehenen Ereignissen. Kündigt Wunderbares an, zeigt sich Liebenden,
oder mahnt vor den Mächten der Dunkelheit.
Nun gab es immer wieder Menschen, die das
Einhorn jagten. Sie suchten es in
Wäldern, lauerten ihm bei den Wasserstellen auf. Sie hatten keinen Sinn
für den Zauber dieses Wesens, das seit vielen Jahrhunderten den Menschen in ihren
Sagen und Geschichten das Staunen lehrte. Man glaubte an Heilkräfte und
Zauberkräfte, die das lange Horn besitzen soll. Viele zogen sogar aus, um
dieses Fabelwesen zu finden, es womöglich einzufangen oder gar zu töten, nur um
des Hornes willen.
Eines dieser unschuldigen Menschenkinder aber hatte es gefunden. Es war ein wunderschönes
Mädchen, das mitten in diesem Zauberwald lebte und nie älter zu werden schien.
Es lief durch den Wald, auf bloßen Sohlen, mit wehendem, weißem Gewande und
flatternden goldenem Haar. Ihr goldener Schleier strich manchmal leicht über
den Rücken des Einhorns. Manchmal lehnte es an der Seite des Einhorns wenn es
trank, dann wiederum schwang es sich auf seinen Rücken und vergrub sein Gesicht in seiner Mähne. Und
das Einhorn warf dann den Kopf zurück und sprang leichtfüßig über den kleinen
Bach.
In Neumondnächten schienen sie menschliche Gestalt anzunehmen, sie lagen
dann zwischen den Blüten der Wiesen, oder schwammen im dunklen See, von Seerose
zu Seerose und ihr Lachen war wie klingende Harfenmusik. Für einen eventuellen
Beobachter, den es nicht gab, würden sie
die Liebe selbst verkörpern, aufgehend in immer wieder kehrenden
Verschmelzungen und Kapriolen. Doch war dies nur in diesen dunklen Nächten zu
ahnen und wahrscheinlich gar nicht wahr.
Doch meist sah man sie nur zusammen durch den Wald streichen
und sich dabei immer wieder zärtlich berührend.
So war es auch heute wieder. Es war ein
wunderschöner Tag, die Sonnenkringel
machten bewegliche Muster auf den weichen Waldboden und die Bienen
summten, die Stille wurde hörbar.
In diesem Augenblick senkte sich von oben her
ein Netz über die beiden und das Einhorn stolperte und fiel hin.
Auch das Mädchen aus dem Zauberwald war in
diesem Netz gefangen.
„Tut ihm nichts, er ist das letzte Einhorn
auf dieser Welt! Die Wunder der Zwischenwelten und die Fantasie der Menschen
werden versiegen!“ Flehende Blicke kamen aus den blauen Augen des Mädchens.
„Naja, dann ist es eben das Letzte! Und
außerdem, welche Wunder? In unserer Welt
gibt es keine Wunder mehr, vielleicht gab es sie niemals!“
Da zog einer der Männer ein großes Beil aus
seinem Sack und mit einem Hieb schlug er dem Einhorn das weit herausragende
Horn am Kopfe ab.
In diesem Augenblick erhob sich ein Sturm, er
fegte durch den Wald und riß Zweige und Blätter ab. Der Wind war so stark,
dass die beiden Männer hinfielen. Doch
sie rappelten sich auf, nahmen das Horn, und ihr Beil und liefen, voller Angst, in den dunklen Wald.
Das Einhorn lag da, verletzt und aus der
Wunde blutend. Das wunderschöne Mädchen saß daneben und weinte. Die Tränen
rannen aus ihren Augen und fielen als goldene Tautropfen in das Gras.
Im Nu versammelten sich alle Tiere des Waldes
um das verletzte Einhorn. Keiner sprach ein Wort, man hörte nur hin und wieder
ein leises Schluchzen. Der Wind hatte nachgelassen und es wehte nur mehr ein
leichter Hauch durch den Wald, der dann aber ganz plötzlich verebbte.
Der Vollmond beleuchtete diese Szene
gespenstisch.
„Warum machen die Menschen so was?“, schluchzte das Mädchen. Ihre Augen richtete sie dabei an die umstehenden Tiere
des Waldes, doch die Tränen verschleierten ihren Blick, so daß sie nur alles
verschwommen sehen konnte.
Alle senkten die
Köpfe, sie wußten auch keine Antwort.
Da verdunkelte plötzlich etwas das Mondlicht.
Alle blickten nach oben. Ein dunkler Vogel schwebte über ihnen, der so groß
war, daß sein Schatten die ganze Lichtung bedeckte. Alle duckten sich aus
Angst, der Vögel könnte sie mit seinen Schwingen streifen.
„Was haben da die
Menschen nur angerichtet!“ Krächzte er.
„Das Einhorn kann nur weiterleben in den
dunklen Wäldern, in den Herzen und Fantasien der Menschen, wenn sie an seine
Mystik, an seine Wirkung auf die
Menschen und seiner Hilfsbereitschaft für die Armen, die Kranken und vor allem auf die Liebenden, glauben. Wenn
sie es in den Geschichten und Sagen weiterleben lassen.“
Der Vogel krächzte
noch einmal laut und der Wind erhob sich wieder, wurde zu einem Sturm.
„Gibt es ein Menschenkind hier, das an all
dies glaubt, das die Geschichten in die Häuser und Herzen der Menschen hinein
tragen wird und sie bewahren? Wenn es
niemand gibt der das tut, dann wird das Einhorn für immer aus unserer Welt
verschwinden!“
Da blickte das schöne Mädchen langsam empor
und sah den großen schwarzen Vogel ohne Furcht an.
„Ja, ich! Ich glaube an das Einhorn, ich
werde es immer begleiten, werde seine Existenz den Menschen nahe bringen und
sie lehren, es zu bewundern und zu ehren!“
Da erhob sich der große schwarze Vogel
wieder in die Luft und der Sturm im Wald wurde so arg, daß die Bäume alle Blätter
verloren und den Boden einen Meter hoch bedeckten. Sein Krächzen war in diesem
Getöse kaum zu hören.
Alle, die konnten, flüchteten auf die Bäume
oder die erhöhten Felsenvorsprünge, um dem Sturm und den herunter prasselnden
Blätter zu entkommen. Manche wühlten sich durch die Blätter zu ihren Höhlen.
Die beiden Männer wollten in Panik aus dem Wald flüchten, doch nach einer
Krümmung des Weges stürzten sie in die Tiefe der Schlucht und ihre angstvollen
Schreie konnte man im ganzen Wald hören. Dann war es plötzlich still.
So wie er gekommen war, so schnell legte sich der Sturm wieder und es war ganz
still im Wald.
Da regte sich etwas unter einem Berg von
Blättern, Zweigen und Blüten. Ganz langsam erhob sich das Einhorn, die Blätter
und Zweige fielen von ihm ab. Er schüttelte sich, stampfte mit den Beinen auf
und die weiße volle Mähne flog nach hinten. Da stand es wieder, in voller
Größe, leuchtend weiß, mit glühenden Augen und einem intakten langen Horn.
Neben ihm auf dem Boden lag das wunderschöne
Mädchen, völlig bewegungslos, den Kopf auf den Arm gelegt und rührte sich
nicht. Das Einhorn berührte es mit seinem Horn, sanft und zärtlich. Da öffnete
das Mädchen seine Augen wieder und
sprang auf.
Es war ein Zauber geschehen, nicht
nachvollziehbar, unerklärlich und doch wunderbar und die Märchen und Sagen, die
Geschichten und die Mythologie mit ihren
Geheimnissen vollziehen weiterhin ihren Kreislauf.
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