Die Lokomotive
Alte Bilder üben auf Menschen die unterschiedlichsten Wirkungen aus.
Manche Menschen sind berauscht von Farben, oder Bildkompositionen.
Manche erleben große Bilder als beeindruckend, andere sind auch von kleinen
Miniaturbildern fasziniert.
Eduard fesseln Bilder der tobenden See, wie solche von William Turner,
oder Bilder unheimlicher Schlösser auf Klippen oder in dunklen Wäldern.
Eduard bewacht als Angestellter einer Wach- und –Schließgesellschaft,
nachts die Säle und Gänge des Kunsthistorischen Museums. Jede Nacht wandert
Eduard kontrollierend durch die Gänge, durch die Stockwerke und steckt seine
Steckkarte in jedes Kontrollkästchen. Tag für Tag, Jahr für Jahr.
Die vielen Jahre dieser Arbeit formten ihn zum Sonderling. Da er
tagsüber schläft, und immer nachts arbeitet, verblieben so gut wie keine
Freunde. Nur seine einzigen Freunde, die Bilder im Museum, hielten ihm die
Treue. Er nimmt sich nie Urlaub, arbeitet auch, wenn er sich nicht wohl oder
krank fühlt und spricht mit „seinen“ Bildern.
Zwischen den Rundgängen sitzt er in der Mitte auf den Sitzbänken und
starrt die Bilder so lange an, bis sie zum Leben erwachen.
Es liebte die Gewohnheit, dann aufzustehen, wie unter Zwang auf das
Bild loszugehen und mit dem Bild zu verschmelzen.
So geschieht es auch heute. Er sitzt auf einer der Sitzbänke in der
Mitte des Raumes, vor einem Bild, das eine Feuer und Dampf ausstoßende
Lokomotive zeigt, die über eine Brücke donnert, unter ihr ein reißender Fluss.
Die Brücke scheint zu schwanken und zu ächzen unter dem Gewicht des Zuges,
einige Streben sind gebrochen und scheinen in die Tiefe zu fallen. Es ist Nacht
und der Himmel ist aufgewühlt, von Wolken und Blitzen beherrscht.
Er steht langsam auf, nähert sich dem Bild und hört plötzlich deutlich
das Donnern und Zischen der Räder und des Dampfes.
Er wird erfasst vom Luftzug der gigantischen Zugmaschine, kann sich im
letzten Augenblick hinauf ziehen und steht nun auf dem Trittbrett der weiter
rasenden Lokomotive. Die Funken verbrennen sein Gesicht und der Ruß in seinen
Augen nimmt ihm die Sicht.
Wo ist nur der Zugführer, rast der Zug führerlos durch die Nacht?
„Schneller, schneller!“ Neben ihm steht eine Gestalt, in einen langen
Umhang gehüllt, die Kapuze ins Gesicht gezogen, in der Hand eine Sense. Seine
Augen erahnt man in den dunklen Höhlen, die das Grauen versprechen.
Eduards Kehle verengt sich, ganz trocken, wie zugeschnürt. Nicht
überlegen, wer das sein könnte, nur nicht daran denken!
„Wir werden entgleisen! Lassen sie mich Dampf ablassen, die Bremsen
ziehen!“, schreit Eduard und versucht die unheimliche Gestalt wegzudrängen, um
zu den Schaltern und Hebeln zu kommen.
Eduard kann nichts sehen, der Dampf umhüllt die Lokomotive, nun
peitscht Regen von allen Seiten in das offene Führerhaus und Flammen und Funken
schlagen aus der offenen Türe der Befeuerung.
„Wo ist der Lokführer oder der Heizer? Wenn sonst niemand da ist,
müssen sie mir helfen!“, schreit er gegen das Inferno.
Es wird ihm plötzlich klar, dass er keine Ahnung von der Führung einer
Lokomotive hat; noch dazu dieser riesengroßen Lokomotive, mit wer weiß wie
vielen Waggons dahinter.
Der unheimliche Geselle stößt ein Lachen aus, das tief aus seiner Kehle
zu kommen scheint.
„Sind längst aus dem Zug gefallen, gehören längst mir. Wir werden mit
diesem Zug in die Tiefe stürzen und die Ernte wird ungeheuerlich werden!“
Eduard hat endlich ein Tuch gefunden, es ist schmutzig und voller Öl
und Ruß. Er versucht sein Gesicht zu säubern, den Blick frei zu bekommen um die
Befeuerungstür zu schließen und der Hitze zu entkommen. Vergebens!
Am Rahmen des Führerhauses taucht plötzlich eine mit Ruß und Blut
verschmierte Hand von außen auf, sich an den Rahmen klammernd.
Es muss einer der beiden Männer sein, die angeblich aus dem Zug
gefallen sein sollen. Um ihn abzulenken wirft sich Eduard mit aller Gewalt
gegen die weiße hohe Gestalt des Mannes mit der Sense hinter ihm und bringt ihn
zum Wanken.
Mit der anderen Hand ergreift er die Hand am Rahmen des Führerhauses,
die sich fest an die seine klammert, schon kommt auch die zweite Hand und er
erfasst auch diese. Eine bullige Gestalt taucht nun an der Seite des noch immer
dahin rasenden Zuges auf und schwingt sich in das Führerhaus.
Die Lokomotive stößt wieder Dampf aus, man kann die Hand nicht vor den
Augen sehen. Der bullige Mann stößt mit bloßer Hand die Befeuerungstür zu.
Eduard ergreift nun die daneben stehende Schaufel und schlägt mit aller
Wucht auf den sich an die Sense klammernden Mann hinter ihm, sieht ihn stürzen
und rückwärts aus dem Führerhaus fallen. Er schaut ihm nach; noch während des
Falles löst sich die Gestalt im Rauch der Lokomotive auf, nur ein heiserer
Schrei verhallt gedämpft.
Der Zug rast in einer undurchdringlichen, dichten Wolke von Dampf und
Funken weiter über die ächzende Brücke. Einzelne, herabfallende Trümmer
versinken in den tosenden Fluten des Flusses unter ihnen.
„Danke, ich danke Ihnen!“ Der bullige Mann streckt ihm überraschend die
blutende Hand entgegen. Sein von Ruß verschmiertes Gesicht, seine große
klaffende Wunde an der Stirn, seine rot umrandeten Augen, lassen Eduard
erschrocken zurückweichen. Er stürzt und schlägt auf dem Boden des Führerhauses
auf.
Der Lärm flaut ab, seine
Wahrnehmungsmöglichkeit entschwindet ihm und er verliert das
Bewusstsein.
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„Was machst du denn da auf dem Boden und wie siehst du denn aus?“
Paul, der zweite Mann vom Wachdienst steht vor Eduard und streckt ihm
die Hand entgegen.
„Eduard, du bist ja ganz schmutzig, dein Gesicht ist schwarz vor Ruß!“
Eduard blickt auf das Bild hinter sich. Er sieht den rasenden Zug, die
schwankende Brücke, das tosende Wasser und ein Gefühl von Erschöpfung,
Müdigkeit aber auch Glück erfüllen ihn.
„Gute Fahrt!“, sagt er leise.
„Ich bin gefallen, ist schon wieder alles in Ordnung!“, er klopft an
seiner Jacke und seiner Hose herum und lächelt ein wenig.
„Mach schon, die dritte Runde ist fällig.“ Paul geht kopfschüttelnd zur
Treppe, um seinen Rundgang im unteren Stockwerk fortzusetzen.
„Er wird immer seltsamer“, murmelt er in sich hinein.
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