Entscheidung in der Dunkelheit
von Joana Angelides
Das ist wieder so ein Abend, der das Ende des Tages ankündigt, er wird
nahtlos in eine dunkle Nacht übergehen.
Er steht am großen Fenster seiner Wohnung unter dem Dach des alten
Hauses und blickt auf die bereits einsetzende
Dämmerung nieder, die die Stadt langsam einhüllt, die Umrisse der Häuser
unscharf werden läßt und erste vereinzelte Lichter vorwitzig versuchen das Grau
zu durchdringen.
Die Hektik des Tages ist im
Abklingen, die Stille beginnt sich
auszudehnen. Hier heroben, über den Dächern der Stadt sind die Geräusche
ohnehin nur gedämpft zu hören.
Gedanken überschlagen sich, man hat eigentlich gar keinen Einfluß
darauf. Bilder ziehen vorbei, Erinnerungen an Gerüche werden wach. Betörende
Gerüche, schwer, den Geist
einschläfernd, die Sinne schärfend. Bilder aus längst vergangener Zeit,
Jahrhunderte gleiten vorbei wie ein langer Zug mit Abteilen. Jedes Abteil ist
besetzt mit fremden, manchmal jedoch auch bekannten Gestalten, bleichen
Gesichtern.
Man wird es müde, all diese Wesen im Gedächtnis zu behalten. Nur
manchmal verbleiben Eindrücke und Erinnerungen, oft ganz tief ins Innerste
verbannt, als Schuldgefühle bestehen.
Ihre Verzweiflungsschreie verhallend in der Unendlichkeit und werden
doch hin und wieder im Unterbewußtsein
wahrgenommen.
Sein Blick ruht auf den Dächern der Stadt, die für ihn zur Heimat
geworden sind. Es gibt noch viele Seelen hier, denen man sich nähern kann, ihre
Eignung zum kurzzeitig gemeinsamen Weg testen kann. Ihr Blut rettet seine
Existenz, hält ihn am Leben, oder wie man das nennen soll, das ihn weiter
treibt, das ihn atmen und suchen läßt. Es ist eher ein Existieren in einer Art
Zwischenwelt ohne sichtbare Grenzen.
Durch die geöffneten Flügel des Fensters dringt etwas kühlere Nachtluft
herein. Er schlingt das rechte Ende des Umhanges um die Schulter und gleitet
lautlos in die Nacht hinaus.
Unendlich lange hat er nun sein
Heim nur nachts verlassen. Er streicht in der Dunkelheit durch die breiten
Straßen, engen Gassen und überquert Plätze, sucht und findet seine Opfer.
Als er aus dem dunklen Park gegenüber heraustritt, unterscheidet er
sich kaum von den vorbei eilenden Menschen. Er wird kaum beachtet, kaum
wahrgenommen.
Gegenüber ist die Brücke, die über den Fluß führt, sie verliert sich im Nebel. Man sieht nur bis
ungefähr zur Mitte, dann ist die Sicht eingeschränkt. Diese Novembernacht verschluckt auch die Geräusche
der darüber gleitenden Autos, die Lichter treffen auf die Nebelwand, tauchen
ein und verschwinden.
Er drückt sich an das Geländer und verschmilzt mit einem Pfeiler, der
hoch hinauf reicht und in der Folge dann im dunklen Wasser der Fluten
verschwindet. Die Lichter spiegeln sich darin und scheinen sich zu bewegen.
Er richtet seine Sinne in die Dunkelheit, horcht auf Geräusche und
Bewegungen und sein Atem stockt. Genau vor ihm, einige Meter vorne, muß sich
jemand ebenfalls an das Geländer lehnen. Er kann die Erregung spüren, die
Unruhe pflanzt sich bis zu ihm fort.
Nun löst er sich aus dem Schatten und bewegt sich lautlos aber schnell
vorwärts. Ungefähr in der Mitte der Brücke sieht er sie. Sie lehnt mit dem Kopf
auf ihrem linken Arm aufgestützt, am
Mittelpfeiler und ihr rechter Arm
umklammert das Geländer. Sie weint so heftig, dass er es hören kann.
Lautlos arbeitete er sich bis zu diesem Mittelpfeiler vor und steht nun
an ihrer Seite.
Sie beugt sich vor und macht Anstalten, sich auf das Brückengelände zu
setzen. Mit einem Schritt nach vor, hält er sie an der Taille fest.
„Nein, Sie springen nicht!“ Er sagt es laut und fest und zieht sie vom Geländer weg.
„Lassen sie mich, ich will nicht mehr leben!“
„Sie würden es bereuen, es gibt Nichts, was Leben ersetzt!“
Er schließt einen Moment seine Augen, wer weiß das besser als er
selbst!?
Sie lehnt nun an der Innenseite des Mittelpfeilers und Tränen rinnen
über ihr Gesicht.
Nun hat er endlich die Gelegenheit sie genauer zu betrachten.
Ihr schmales Gesicht wird umrahmt von dunklem Haar, das wie ein Helm an
ihrem Kopf anliegt. Stirnfransen reichen fast bis zu den Bögen der Augenbrauen,
die einen wunderbaren Schwung haben und ihre großen, ebenfalls dunklen Augen,
noch zusätzlich betonen.
Ihr voller Mund ist geöffnet und ihre Lippen zucken, während ihre Zunge
langsam hin und her fährt. Sie sah so jung und hilflos aus!
Ja, ein hilfloses Mädchen, das war genau das, was er heute Nacht
braucht.
„Lehnen Sie sich an mich, das tut Ihnen sicher gut. Vielleicht kann ich
dafür sorgen, dass Sie nie mehr weinen!“
Sie kann die Zweideutigkeit dieses Satzes nicht verstehen, doch irgendetwas
drängt sie, sein Angebot anzunehmen.
Ihr Kopf ruht nun auf seine Brust, leicht seitwärts geneigt und die
feine Linie ihres weißen Halses liegt frei vor ihm. Er schließt die Augen, die Vorstellung mit
seinen Lippen darüber zu streichen, zu verweilen, überwältigt ihn.
Er legt seinen Arm um sie und gleichzeitig hüllt er sie in seinen
Umhang ein. Sie schluchzt zwar noch weiter, doch er spürt, wie sich der Krampf
langsam löst und es ein befreites Weinen wird.
Langsam beginnt er schrittweise, mit ihr im Arm, die Brücke zu
verlassen. Die Autos, die auf der Fahrbahn vorbei gleiten hüllen sie manchmal
in helleres Licht. Die Lenker vermeinen
ein Liebespaar zu sehen, eng
umschlungen, weltvergessen dahin gehen.
Er führt sie langsam in den dunklen Park, dort wo einige Bänke stehen
und die Beleuchtung nicht sehr effizient ist. Er zieht sie zu sich herunter,
als er Platz nimmt. Sie löst sich aus seinen Armen und lehnt sich leicht
zurück. Nun erst kann sie ihren Begleiter voll ins Gesicht sehen.
Sie sieht ein schmales, blasses Gesicht mit großen dunklen Augen, die
in ihrer Tiefe zu brennen schienen.
Plötzlich steigt Angst in ihr auf und sie will aufstehen, doch sein
linker Arm, der sie unter ihrer sich hebenden und senkenden Brust sanft, aber
nachdrücklich niederdrückt, läßt das nicht zu.
Der sie umhüllende Umhang tut den Rest und eigentlich ist sie von ihm
gefangen, wie in einem Seidenkokon.
Er spürt in der Enge des
Umhanges, der sie beide einhüllt, wie sie am ganzen Körper zittert. Er weiß, dass sie durch den dünnen Stoff ihres Kleides
seine Erregung spüren muß. Die weiße
Schulter, die aus der verrutschten Bluse hervor leuchtet, raubt ihm fast den
Verstand.
Ihr Schluchzen hat aufgehört, die letzte Träne findet ihren Weg über
ihre Wange. Sein Gesicht kommt immer näher,
sein Mund ist leicht geöffnet. Seine weißen Zähne schimmern in der
Dunkelheit.
„Vergessen Sie ihn, wenn er Ihnen diesen Schmerz zufügt, dann ist er
ihre Liebe nicht wert. Kommen Sie mit mir mit, ich zeige Ihnen die Welt, wir
verschreiben uns dem Wind und reisen mit
den Wolken über die Kontinente zu fernen Meeren. Ich verspreche dir ewige
Jugend, Kraft und Macht über die Menschen! Möchtest du das mit mir teilen?“
Sie kann ihre Augen nicht aus den seinen lösen, es erscheint ihr
erstrebenswert mit ihm in seine Welt einzutauchen. Sie hat keine Ahnung und
keine Vorstellung was sie erwartet, doch ist sie bereit, es zu erfahren.
Sie nickt einige Male hintereinander und drückt sich unwillkürlich
wieder fester an ihn. Sie kam sich so verloren, so einsam vor. Doch plötzlich
nun ist eine starke Mauer da, an die sie sich anlehnen kann, die Gemeinsamkeit
verspricht.
Im letzten Satz ist er in das vertraute DU gefallen, doch sie merkt es
kaum. Sie hört fasziniert seiner Stimme zu, seinen Schilderungen über die
Zukunft und schließt die Augen. Sie kann den Triumph in seinen Augen nicht
sehen, die Gier und das Verlangen nach ihr und ihrem Blute.
Sie spürt kaum, wie sich seine Zähne langsam in ihren Hals bohren, es
ist nur ein kleiner Schmerz. Doch sie spürt, wie sich eine unglaubliche
Müdigkeit und Leichtigkeit in ihrem Körper ausbreitet und verliert fast das
Bewußtsein. Er hebt ihr leichte Gestalt auf, läßt sie umhüllt von dem schweren
schwarzen Mantel in seinen Armen liegen und erhebt sich mühelos und schwebt mit
ihr, seinem neuen Opfer, über die
dunklen Spitzen der Bäume des Parks bis zu dem großen offenen Fenster seiner
Dachgeschoßwohnung. Denn am Horizont
zeigt sich schon vorsichtig der junge Tag und die ersten Sonnenstrahlen haben
die Kuppel der Kirche gegenüber erreicht.
Der tiefe todesähnliche Schlaf, der sie nun beide umfängt führt in eine
Welt, die nur ihresgleichen betreten können.
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